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From DDR-Presse: Beitraege und Materialien

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Hauptfoto: File:Zeitungskiosk Berlin 1971.jpg
Zeitungskiosk in der Schönhauser Allee, Berlin 1971. Foto: Rainer Mittelstädt.
Zeitunglesen in der DDR
von: Anke Fiedler, Michael Meyen veröffentlicht: 01.04.2012
Wer dieses Portal durchklickt und vielleicht im Facebook-Zeitalter groß geworden ist, wird sich kaum vorstellen können, dass DDR-Zeitungen gelesen worden sind: langweilige Überschriften und wenig Seiten, dort dann oft Tagungsberichte und Texte, die eher an Parolen erinnern, dazu Fotos von Sozialismus-Ikonen wie Erich Honecker, Leonid Breshnew oder Walter Ulbricht. Der Schriftsteller Christoph Hein hat seine Kollegen Ende 1987 aufgefordert, der Presse dankbar zu sein. Während Zeitungen und Zeitschriften in allen anderen Ländern das Publikum mit Neuigkeiten von der Buchlektüre abhalten würden, habe sich in der DDR kaum ein Bürger mehr als ein paar Minuten mit diesen Medien zu beschäftigen. Von Romanen erwarte der Leser deshalb nicht nur Unterhaltung und gute Geschichten, sondern auch „Neues und Wahres”[1] – das, was eigentlich die Zeitung liefern müsste. Und Fritz Pleitgen, 1977 bis 1982 ARD-Korrespondent in der DDR, meinte nach der Wende, dass die DDR-Presse sich „wegen ihrer unglaubwürdigen Einseitigkeit” selbst ausgeschaltet und „das Feld konkurrenzlos den Westmedien” überlassen habe.[2] Wenn man diesen beiden Kronzeugen glaubt, dann waren Zeitungen im DDR-Alltag ohne Bedeutung: unglaubwürdige und einseitige Blätter, die man nach wenigen Minuten in den Müll werfen konnte, auch weil sie wenig kosteten (ein Exemplar zehn oder 15 Pfennig und im Monat rund drei Mark), und weil es sich bei diesem Preis auch dann noch gelohnt hat, ein Abonnement zu haben, wenn man nur das große Kreuzworträtsel am Freitag wollte oder die Fußballergebnisse am Montag.
Dieser Beitrag zeigt, dass Zeitungen in der DDR mehr waren als billige Papierlieferanten und dass (in den allermeisten Fällen) auch kein Zwang nötig war, damit die Menschen die Blätter der SED oder der kleineren Blockparteien kauften und dann auch lasen. Die Argumentation stützt sich dabei auf zwei Quellen. Erstens wurde alles Material zum Thema ausgewertet, das in den Archiven überliefert ist: Auflagenstatistiken des Presseamtes beim Vorsitzenden des Ministerrates, Umfragen von DDR-Verlagen oder Meinungsforschungseinrichtungen (die es in einem frühen Stadium schon zu Beginn der 1950er-Jahre und mit sozialwissenschaftlichen Methoden dann ab Mitte der 1960er-Jahre gab)[3], Befragungen von Westberlin-Besuchern oder Flüchtlingen in der Bundesrepublik, bei denen es immer auch um die Mediennutzung ging,[4] sowie verstreute Hinweise in Aktenbeständen, die zum Beispiel Leserbriefe dokumentieren. Und zweitens wird eine medienbiografische Erhebung herangezogen, bei der zwischen den Jahren 2000 und 2002 etwas mehr als hundert Ostdeutsche aus allen Schichten ausführlich zum Alltag und zu ihrem Umgang mit den Medienangeboten in der DDR befragt worden sind.[5] Der Beitrag beginnt mit der Verbreitung der Tagespresse (Auflagenentwicklung), fragt dann nach dem Stellenwert der Blätter im Alltag sowie nach dem Urteil der Leser und diskutiert am Ende, warum auch unglaubwürdige Zeitungen Orientierung liefern konnten.

Verbreitung der Tagespresse

Die DDR war ein „Zeitungsleseland”. Ende der 1980er-Jahre lag die Zeitungsdichte bei knapp 600 Exemplaren je 1000 Einwohner. Ähnlich hohe Werte erreichen heute nur die „Zeitungs-Weltmeister” Japan (2008: 612 Exemplare) und Norwegen (2008: 570 Exemplare). Zum Vergleich: In der Bundesrepublik kamen 2008 auf 1000 Erwachsene (über 14 Jahre) 289 Tageszeitungsexemplare.[6]

Tageszeitungen in der DDR – Auflagenentwicklung

Im letzten DDR-Jahrzehnt hatten drei von vier Haushalten eine SED-Bezirkszeitung abonniert, und Briefkästen, in denen drei Zeitungen steckten, waren keine Seltenheit: neben dem Lokalblatt das „Neue Deutschland” (ND), das SED-Zentralorgan, und für die Jugendlichen die „Junge Welt”, das Organ der Freien Deutschen Jugend. Die Auflagenentwicklung zeigt erstens, dass die Auflagen ständig gewachsen sind, und zweitens, dass die herrschende Partei auch bei der Presse von Anfang an dominierte. Infratest schrieb 1956 nach einer Umfrage unter Arbeiterflüchtlingen, dass die SED-Zeitung zu den selbstverständlichen und undiskutierten Gegenständen des Alltags im Osten gehöre. Die Forscher wunderten sich dabei besonders, dass die Befragten (Menschen, die in der Bundesrepublik auf Vergünstigungen hofften) bereitwillig die entsprechenden Zeitungsnamen genannt hatten. Die Frage, warum die Presse von CDU und Liberaldemokratischer Partei so niedrige Auflagen habe, sei von den meisten Interviewten als Vorwurf aufgefasst und damit beantwortet worden, dass dort das Gleiche stehe.[7] Das stimmt nicht ganz: In den Zeitungen der kleinen Parteien stand weniger und dann nicht das, was die Mehrheit der Leser in einer Tageszeitung sucht. Die SED-Presse bekam mehr Papier, und nur sie lieferte für jeden Landkreis (fast) jeden Tag eine Lokalseite. Die Zeitungen der kleineren Parteien wurden nicht nur von den Mitgliedern gelesen, sondern auch von Menschen, die aus Prinzip kein SED-Blatt im Haus haben wollten. Ein Zeitungsabonnement wurde sowohl von den Anhängern des Systems als auch von der Gegenseite immer als Gesinnungszeichen gewertet, als Symbol, an dem man einander erkennen konnte. „Die Union” (CDU) sei nicht kritischer gewesen als die SED-Zeitungen, aber „nicht ganz so rot, vielleicht nicht ganz so propagandistisch”, sagte ein Gärtner, Jahrgang 1951. Er habe nur die hinteren Seiten angesehen, das Blatt aber bewusst genommen, weil es „wenigstens noch so ein wenig von der Kirche” gewesen sei. Ein Pfarrer, Jahrgang 1938, lobte die „Neue Zeit” für ihr „ausgezeichnetes Feuilleton”. Die Zeitung sei „gar nicht schlecht” gewesen, und er habe sie manchmal gekauft, wenn er im Zug etwas zu lesen brauchte. Abonniert aber hatte er das Zentralorgan der SED. Die Auflagenzahlen spiegeln dabei die Nachfrage nur ungenau wider. Es war keineswegs jederzeit möglich, jede beliebige Zeitung zu abonnieren. Das Papier reichte nicht aus, um alle Wünsche zu befriedigen. Immer wieder wurden selbst SED-Blätter auf der Postzeitungsliste für Neubestellungen gesperrt. Die letzte Sperrzeichenwelle am 1. September 1987 traf neun SED-Bezirkszeitungen sowie die „Neue Zeit”.[8] Ein Redakteur der „Sächsischen Zeitung” in Dresden, Jahrgang 1938, der in der medienbiografischen Studie befragt worden ist, sagte im Rückblick, die Auflagensperre sei „unter heutigen Bedingungen unvorstellbar”. Das Blatt sei „gefragt” gewesen, und um den „Bevölkerungsbedarf” besser decken zu können, habe man „irgendwo anders Abonnement-Zeitungen weggenommen”, in Behörden etwa und sogar in den Haftanstalten.

Tageszeitungen im Alltag

SED Bezirkspresse – Leserinteressen 1967

Die Wünsche der Zeitungsleser in der DDR haben sich nicht von den Wünschen der Zeitungsleser in anderen modernen Gesellschaften unterschieden: Zuallererst wurden auch hier Informationen über die unmittelbare Umgebung erwartet. Obwohl die SED-Bezirkszeitungen nur fünf Lokalseiten pro Woche hatten (Dienstag bis Samstag), obwohl im Sommer Mähdrescher und Traktoren diese Seiten prägten und der 1. Sekretär der SED-Kreisleitung auch in den anderen Jahreszeiten immer präsent war: In den Landkreisen konnten diese Blätter von den Zeitungen der kleinen Blockparteien nicht ersetzt werden und erst recht nicht vom „RIAS”, von Fritz Pleitgen in der „Tagesschau” oder von den hin und wieder eingeschmuggelten Westblättern. Bei einer Befragung von Lesern der drei SED-Bezirkszeitungen „Lausitzer Rundschau” (Cottbus), „Freiheit” (Halle) und „Schweriner Volkszeitung” Anfang 1967 schrieben 90 Prozent der Einsender, dass sie „regelmäßig” die Lokalseite lesen würden. Auf das größte Interesse stießen dort Gerichtsberichte, Anzeigen und Lokalnachrichten (in dieser Reihenfolge). Es sei hauptsächlich darum gegangen, wer gestorben ist, und dann auch generell um die Anzeigen, sagte ein Schlosser, Jahrgang 1951. „Weil man immer mal was gebraucht hat, was andere loswerden wollten.” Ein zweiter Schlosser, 1961 geboren, meinte sogar, Anzeigen seien „doch das tägliche Leben” gewesen. „Tausche oder Suche. Habe blaue Kacheln. Blaue Kacheln, Bezeichnung für Westgeld.” Die „Neue Zeit” dürfte auch deshalb eine sehr viel höhere Auflage als das LDPD-Zentralorgan „Der Morgen” gehabt haben, weil das CDU-Blatt den Automarkt hatte – in einem Land, in dem man mehr als zehn Jahre auf einen Neuwagen warten musste, eine Kostbarkeit.[9]

Die Umfrage von 1967 ist zwar nicht repräsentativ (fast drei Viertel der Teilnehmer waren Männer und mehr als ein Drittel SED-Mitglieder), erlaubt aber dennoch einen Blick in das „Zeitungsleseland” DDR. Die „Heimatkreis-Berichterstattung” war für die Leser der mit Abstand wichtigste Teil der SED-Bezirkszeitung. Die Frage „Was würden Sie kritisieren?” beantwortete nur jeder zweite Teilnehmer. „Zu wenig Lokales” (235 Nennungen) und „mehr Unterhaltung, mehr Familie” (157) lagen an der Spitze, und lediglich die „verspätete Berichterstattung” kam noch auf annähernd hundert Erwähnungen. Jeder Achte der Abonnenten, die einen Fragebogen einschickten, brauchte für die Zeitung nicht einmal eine Viertelstunde, und über die Hälfte der Leser war spätestens nach dreißig Minuten mit ihrem Blatt fertig. Diese Zahlen täuschen noch etwas, da Männer und politisch Interessierte in der Stichprobe überrepräsentiert waren, zwei Gruppen, die auch heute länger Zeitung lesen als der Durchschnitt. Eine Zahnärztin, Jahrgang 1960, deren Vater selbstständiger Handwerker war und deren Geschwister in den 1980er-Jahren ausgereist sind, hat im biografischen Interview zwischen „Abonnieren” und „Lesen” unterschieden und von der „Technik” gesprochen, das „Langweilige zu überfliegen”. „Dieses ganze Blabla, das hat man wirklich nicht gelesen.”

Auch ohne jeden Inhalt wären Zeitungen wertvoll gewesen, weil sie Papier ins Haus brachten – in der DDR weit länger als in der Bundesrepublik eine Kostbarkeit. Ein Postzusteller, Jahrgang 1962, selbst kein „ND”-Leser, sagte, das Blatt sei nicht nur „gerne genommen” worden, weil dort „sämtliche Beschlüsse und Debatten bis ins Kleinste abgedruckt wurden”, sondern auch, „weil es sehr groß und sehr saugfähig war” und sich deshalb hervorragend „zum Tapezieren, zum Abdecken oder zum Fenster putzen” geeignet habe. Die SED-Blätter hatten mehr Seiten und konnten außerdem all die Bedürfnisse, die mit den materiellen Eigenschaften einer Zeitung zusammenhängen, genauso gut befriedigen wie die Konkurrenz. Zeitungen bieten einen Schutz- und Rückzugsraum, sie helfen über Einsamkeit hinweg und über eine „leere” Viertelstunde. Man hat etwas in den Händen und kann sich ausruhen, ohne sich dafür entschuldigen zu müssen.[10] Eine junge Frau, 1978 geboren, erinnerte sich an einen Samstag, an dem die Postfrau krank war und keine Zeitung kam (hier „Der Morgen”, das Zentralorgan der Liberaldemokraten). „Da war mein Vater sauer, weil er nicht wusste, was er das ganze Wochenende machen sollte.” Es mag paradox klingen, aber der Papiermangel trieb die Auflagen noch auf einem anderen Weg in die Höhe. Der Bedarf nach Illustrierten konnte in der DDR nie gedeckt werden. Oft gab es mehr Interessenten als Exemplare. Was lag da für die Post näher als „Koppelgeschäfte”? Die „Wochenpost”, der „Eulenspiegel” oder die Programmzeitschrift „FF dabei” wurden an vielen Kiosken für „besonders gute Kunden” zurückgelegt, und in den Akten des Postministeriums finden sich zahlreiche Beschwerden über Zusteller, die Zeitschriften-Abonnements nur im Doppelpack verkauften.

Glaubwürdigkeit der Zeitungen

In den medienbiografischen Interviews ist das Urteil über die Informationspolitik vernichtend ausgefallen. Niemand hat hier gesagt, dass er dem Osten geglaubt habe – selbst die Menschen nicht, die die SED-Medienpolitik auch im Nachhinein verteidigen. Die meisten Befragten haben über den „Ärger der mündigen Bürger” gesprochen und über „politische Engstirnigkeit” geklagt sowie über „dumme und schlechte” Propaganda. Eine Kindergärtnerin, Jahrgang 1944 und selbst Parteimitglied, sagte, die Medien seien „Sprachrohr des Politbüros” gewesen. „Tendenziös? Tendenziös ist gar kein Ausdruck.” Diese Befunde sind keineswegs eine Momentaufnahme und auch nicht mit den Besonderheiten der Interviewserie zu erklären (zehn Jahre nach dem Mauerfall, Fokus auf die 1980er-Jahre) oder mit den Erfahrungen nach der Wende. Es gibt keine Indizien, dass die einheimischen Medien zu irgendeinem Zeitpunkt in der DDR-Geschichte glaubwürdig waren. Wann immer die Leser befragt wurden: Sie klagten über die „rosarote Brille”, über Zahlendrescherei und Phrasen.[11]

Urteil über die Presse 1970

Als das Institut für Meinungsforschung beim ZK der SED 1970 nach der politischen Berichterstattung fragte, war nicht einmal ein Drittel der Menschen bereit, der Presse das Prädikat „überzeugend” zuzugestehen, obwohl das „Ja” auf dem Fragebogen schon durch das Wort „überwiegend” eingeschränkt worden war. Der hohe Anteil von Antwortverweigerungen zeigt, wie problematisch Fragen nach der Medienbewertung selbst dann waren, wenn Anonymität zugesichert wurde. Viele sagten offenbar lieber „weiß nicht”, als sich möglichen Ärger zuzuziehen oder sich zu verbiegen. In den biografischen Interviews wurden neben der Glaubwürdigkeit weitere Kritikpunkte genannt: die fehlende Aktualität (nicht nur in den Zeitungen selbst, sondern auch bei der Zustellung), zu wenig Polizeimeldungen, zu wenig Katastrophenberichte.

Die überlieferten Quellen können zwar genau wie die medienbiografischen Interviews nicht verlässlich über Größenordnungen informieren, wenn das Material aber nicht völlig täuscht, dann haben weite Teile der Bevölkerung (vor allem Frauen, die durch ihren Alltag ausgelastet waren, und Menschen, die mit ihrem Leben in der DDR weitgehend zufrieden waren) die Medienangebote aus Ost und West in erster Linie zur Unterhaltung genutzt und die Politikberichterstattung gemieden, sowohl in den DDR- als auch in den Westmedien. Dazu kommt ein Nutzertyp (aus dem Umfeld der Kirchen), der Botschaften der SED aus Prinzip ausgewichen ist. In den Eliten (Führungskräfte in der Wirtschaft, der Partei und in Verwaltungen), im Kreis der erklärten Regimegegner, zu dem Künstler, Pfarrer oder Intellektuelle gehören konnten, und von Menschen, die sich von der DDR zurückgewiesen fühlten (weil ihnen sozialer Aufstieg verwehrt worden war, weil sie sich unterbezahlt fühlten oder an der Bürokratie gescheitert waren), wurden die DDR-Zeitungen aber regelrecht studiert. Ein Pfarrer, Jahrgang 1942, sagte, er habe das „ND” gelesen, weil dort „die SED-Meinung” gestanden habe. „Das hat man gelesen, um die Art zu kennen, wie bestimmte Dinge interpretiert werden von offizieller Seite. Wie ist der Bericht gemacht, was wird berichtet und was wurde weggelassen. Wie sollte es verstanden werden.” Für eine intensive Lektüre sprechen auch die Befunde der regelmäßigen Leserbriefanalysen in den Redaktionen. Die meisten Einsender monierten Fehler: „falsche Faktenangaben, falsche Zahlen, Maße, Namen, Daten und Berechnungen, falsche Schreibweisen, geografische Fehler und Satzfehler”.[12]

Öffentlichkeit und Leserbriefe

Die DDR-Bürger wussten, dass die Medien gelenkt waren, und kannten auch die Ziele (Unterstützung der Herrschenden – in der Auseinandersetzung mit dem Westen und im Kampf um die Köpfe der eigenen Bürger). Politisch interessierte Menschen bekamen so durch die Zeitungen eine Möglichkeit, nicht nur auf die Ziele und die Position der SED-Führung zu schließen, sondern indirekt auch auf die Haltung des Klassengegners, auf außen- und innenpolitische Konfliktherde sowie auf wirtschaftliche Probleme. Obwohl die „politisch inszenierte Öffentlichkeit” weder für alle Themen offen war noch für alle Akteure, hat sie auf diese Weise zumindest teilweise für Transparenz und Orientierung gesorgt. Ein Schriftsteller, Jahrgang 1953, der in einem Kirchenverlag als Lektor arbeitete, hat von einem „tief sitzenden Vorurteil” gesprochen. Wenn große Plakate „Eier sind gesund” gerufen hätten, habe er sofort gewusst, dass die Kühlhäuser voll seien und die Eier weg müssten. Umgekehrt hätten Aktionen unter dem Motto „Fleisch ist schädlich” auf einen Engpass hingedeutet.

Die „politisch inszenierte Öffentlichkeit” hat außerdem über die jeweils aktuell gültige Lesart der Ideologie informiert – über das, was man tun und sagen konnte, ohne anzuecken. Elisabeth Noelle-Neumann definiert öffentliche Meinung als Meinungen, die Menschen „zu einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort” öffentlich zeigen müssen, um sich nicht zu isolieren, oder die sie zeigen können, ohne aus dem jeweiligen Verband ausgestoßen zu werden.[13] Ihre Theorie der „Schweigespirale” geht dabei davon aus, dass Menschen sich vor Isolation fürchten und deshalb pausenlos auf das Feinste registrieren, welche Meinungen und welches Verhalten in ihrem Umfeld vorherrschen. Dabei nehmen sie nicht nur Signale aus ihrer unmittelbaren Umgebung auf, sondern auch aus den Massenmedien. In den medienbiografischen Interviews finden sich unzählige Belege für die These, dass auch gelenkte Medien eine solche Orientierungsfunktion haben – vor allem für Menschen, die sich in Bereichen bewegen, die von der herrschenden Partei kontrolliert werden oder für sie besonders wichtig sind (Bildungswesen, öffentliche Verwaltungen, Armee). Die Tageszeitungen lieferten nicht nur die Themen, um die es am nächsten Tag, in der nächsten Versammlung gehen würde, sondern auch die offizielle Sichtweise und die entsprechenden Formulierungen – so sollte man sich kleiden oder frisieren, so konnte, so musste man es sagen, ohne sich zu isolieren oder vielleicht sogar Position oder Karriere zu gefährden.

Das Wissen um die hohe Bedeutung, die die SED den Tageszeitungen zuschrieb, und um die enge Verbindung zwischen Redaktionen und Entscheidungsträgern hat dazu geführt, dass sich die DDR-Bürger mit ihren Sorgen und Nöten an die Presse und teilweise sogar an die Agitationssekretäre im ZK der SED gewandt haben – nicht weil sie annahmen, dass die Briefe veröffentlicht werden würden, sondern weil sie wussten, dass diese bei den zuständigen Stellen (wenn es um konkrete Probleme ging) oder im Zentrum der Macht ankamen.[14] Leserbriefe waren laut Gesetz als Eingaben zu behandeln. Innerhalb einer Frist von vierzehn Tagen musste der Einsender eine Antwort erhalten.[15] Die Zentrale Revisionskommission der SED forderte bei einer Prüfung 1980 folgerichtig eine schnelle und parteimäßige Bearbeitung. „Alle Eingaben und Leserbriefe” seien zu registrieren, „termingemäß” zu beantworten oder an „dritte Stellen” weiterzuleiten (etwa an Verwaltungen). Wenn diese „dritte Stelle” dem Einsender nicht schrieb, war „eine öffentliche Mahnung in der Zeitung” denkbar. Auf den Pressefesten, die von jeder Zeitung einmal im Jahr veranstaltet wurden und Volksfestcharakter hatten, wurde offensiv für Leserbriefe geworben, um „die Teilnehmer zur schöpferischen Mitarbeit anzuregen”.[16] Im Prüfbericht für das „ND” wurde dann gelobt, dass die Leser „eine persönlich gehaltene differenzierte Antwort” erhalten würden, „die, wenn erforderlich, nach Konsultationen mit Sachkundigen abgefasst ist”. In den 1970er- und 1980er-Jahren bekam das SED-Zentralorgan etwa 5.000 bis 6.000 Leserbriefe im Jahr, von denen allerdings nicht wenige auch grundsätzliche Zustimmung zum Kurs der Partei oder zur Linie des Zentralorgans signalisierten. Bei den Eingaben ging es vor allem um Wohnungs- und Versorgungsprobleme.[17]

Die Redaktionen der Parteiblätter fassten die Themen der Leserzuschriften und die Positionen, die dort geäußert wurden, regelmäßig in Berichten zusammen, die von der Abteilung Agitation ausgewertet und in Dossiers zusammengestellt wurden. Diese dienten der Parteiführung als Stimmungsbarometer, da sie Rückschlüsse auf die Meinungen und Einstellungen in der Bevölkerung zu aktuellen politischen Fragen und Problemen zuließen. Am 10. Februar 1978 konnte man in einem solchen Dossier zum Beispiel lesen, dass die Bauarbeiter in Cottbus darüber diskutierten, „ob wir uns im Wohnungsbau nicht übernommen haben”, und eine „Plankorrektur” forderten. Auch würden die meisten Bürger es zwar begrüßen, dass einige Fahrzeuge vom Typ VW Golf eingeführt worden seien, manche Menschen aber würden beklagen, dass der Wagen nur denen zugute komme, „die Geld haben”, und deshalb fragen, ob man angesichts des Devisenmangels „nicht etwas Wichtigeres” hätte kaufen können.[18] An die Zeitungen zu schreiben lohnte sich, weil es einen direkten Draht zur SED-Spitze gab und man als Bürger der Politik so die Themen mitteilen konnte, die zu bearbeiten wären, und die Richtung, in der dies im Idealfall geschehen sollte – Aufgaben also, die in demokratischen Gesellschaften das intermediäre Diskussionssystem Öffentlichkeit übernimmt. Wenn sich ein persönliches Problem nicht auf diesem Weg oder in einer Leserversammlung lösen ließ, dann wahrscheinlich nirgendwo. Joachim Herrmann, 1978 bis 1989 SED-Agitationssekretär, bekam sogar Briefe, in denen er um Abonnements gebeten wurde – zum Beispiel im Januar 1989 aus Berlin mit dem Argument, dass man sich ohne die „Berliner Zeitung” gar nicht über die „Kandidaten der Wahlkreise” informieren könne. Wenig später hatte die Familie ihre Zeitung.[19] Diese Politik des Einzelfalls unter Umgehung der Öffentlichkeit hatte für die Herrschenden zwei Vorteile: Zum einen wurden Kritiker zumindest zeitweise zufriedengestellt, und zum anderen konnten DDR-Bürger nur in „kleinen Öffentlichkeiten” (in Gesprächen am Arbeitsplatz und in der Wohngemeinschaft, in der Gaststätte oder im Sportverein) erfahren, welche Sorgen ihre Nachbarn hatten, und sich so schwerer über das Meinungsklima informieren.

Dass sich Politik und Bürger zwischen den Ebenen Massenkommunikation und Veranstaltungsöffentlichkeit auf der einen Seite (die beide von Gegnern aus dem Westen hätten eingesehen werden können) und solchen „kleinen Öffentlichkeiten” auf der anderen Seite selbst über zentrale ideologische Fragen austauschen konnten, zeigt auch das Beispiel der Rezensionen zum Film „Die Reue”. Der stellvertretende Chefredakteur des „Neuen Deutschland” Harald Wessel bekam in der ersten Woche nach seinem Verriss vom 1. November 1987 im „ND” immerhin 19 Anrufe und 57 Briefe, in denen die Ablehnung deutlich überwog. Die kritischen Briefe, die teilweise „doppelt so lang” waren wie der Artikel selbst, kamen dabei keineswegs nur von erklärten DDR-Gegnern, sondern auch aus Wessels „Freundeskreis”: etwa von Jürgen Kuczynski, Leonhard Kossuth oder aus der SED-Grundorganisation des Aufbauverlages, unterschrieben vom Parteisekretär. Nach diesem Brief fragte Wessel Herrmann etwas ratlos, wie er „reagieren” solle.[20] Zwei Tage vorher hatte er aus den Briefen Pro und Contra zusammengestellt und die Liste unter anderem an den Agitationssekretär geschickt.[21]

Zusammenfassung

Anders als Christoph Hein oder Fritz Pleitgen vermutet haben, wurden die DDR-Zeitungen nicht nur abonniert, sondern tatsächlich gelesen – obwohl die Blätter erkennbar den Interessen der Herrschenden dienten und deshalb unglaubwürdig waren und obwohl sie wenig von dem boten, was uns normalerweise zum Zeitungskauf anregt (interessante Überschriften, gute Geschichten oder Fotos). Natürlich haben sich die Menschen damals wie überall auf der Welt für die Lokalnachrichten interessiert, für den Wetterbericht und den Sport. Diese Serviceteile erklären aber ebenso wenig wie der Papierbedarf oder Verlegenheits- und Gelegenheitskäufer die hohen Auflagen vor allem der SED-Blätter. Auch in der DDR haben die Zeitungen Orientierung erlaubt, weil die Menschen wussten, dass die SED in die Redaktionen hineinregiert. Mit ihren Alltagserfahrungen (im Betrieb oder auf der Jagd nach irgendwelchen Waren und Dienstleistungen) sowie teilweise auch über die Westmedien verfügten sie über Maßstäbe, mit denen sich die Berichterstattung bewerten ließ. Dass die Zeitungsredaktionen direkt den Machthabern untergeordnet waren, erlaubte es, sowohl auf Interessen und Probleme der Herrschenden zu schließen als sich auch an die geltenden Normen anzupassen. Darüber hinaus lieferten die Leserbriefe eine Möglichkeit, mit den Machthabern zu kommunizieren und so die eigenen Interessen zu artikulieren, obwohl die Briefe oft nicht veröffentlicht wurden. Auch die Tageszeitungen in der DDR haben so ein Diskussionssystem geschaffen, das zwischen Politik und Bevölkerung vermittelte. Da dieses Diskussionssystem nicht öffentlich war und die Bürger bestenfalls in Gesprächen am Arbeitsplatz oder in der Kneipe erfahren konnten, welche Probleme die anderen hatten und wie die Führung auf Eingaben und Gesprächsangebote reagierte, bremste diese Kommunikationsstruktur den Meinungs- und Willensbildungsprozess und hat so möglicherweise den gesellschaftlichen Umbruch hinausgezögert.

Anmerkungen

  1. Christoph Hein, Als Kind habe ich Stalin gesehen. Essais und Reden, Berlin 1990, S. 77-104.
  2. Fritz Pleitgen, Als Korrespondent in der DDR, in: Heide Riedel (Hrsg.), Mit uns zieht die neue Zeit ... 40 Jahre DDR-Medien, Berlin 1993, S. 199-203; zum Westfernsehen in der DDR vgl. Michael Meyen, Die ARD in der DDR, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament Nr. 20 vom 17. Mai 2010, S. 28-34, http://www.bundestag.de/dasparlament/2010/20/Beilage/005.html (18.4.2011).
  3. Michael Meyen, Die Anfänge der empirischen Medien- und Meinungsforschung in Deutschland, in: ZA-Information/Zentralarchiv für Empirische Sozialforschung (50) Mai 2002, S. 59-80; Heinz Niemann, Hinterm Zaun. Politische Kultur und Meinungsforschung in der DDR – die geheimen Berichte an das Politbüro der SED, Berlin 1995.
  4. Vgl. exemplarisch Kurt R. Hesse, Westmedien in der DDR, Köln 1988.
  5. Vgl. Michael Meyen, Denver Clan und Neues Deutschland. Mediennutzung in der DDR, Berlin 2003.
  6. Quelle: Bundesverband deutscher Zeitungsverleger, http://www.bdzv.de/schaubilder+M5c36a642153.html (18.4.2011).
  7. Infratest, Arbeiter aus der DDR (1956), in: Bundesarchiv Koblenz B 137 Nr. 783 (nicht paginiert); vgl. Michael Meyen, Hauptsache Unterhaltung. Mediennutzung und Medienbewertung in Deutschland in den 50er Jahren, Münster 2001, S. 183-185.
  8. Vgl. Steffen Reichert, Transformationsprozesse. Der Umbau der Leipziger Volkszeitung, Münster 2000, S. 25.
  9. Vgl. Michael Meyen/Anke Fiedler, Die Grenze im Kopf. Journalisten in der DDR, Berlin 2011.
  10. Klaus Schönbach, Die Zukunft der gedruckten Zeitung, in: Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger (BDVZ) (Hrsg.), Zeitungen 2003, Berlin 2003, S. 126-135.
  11. Vgl. Meyen, Hauptsache Unterhaltung, S. 229-238.
  12. Zentrale Revisionskommission, Bericht über die Ergebnisse der Prüfung „Die Arbeit mit den Leserbriefen und Eingaben in der Redaktion des Zentralorgans des ZK der SED, Neues Deutschland“, August 1980, Bestände der Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (BArch-SAPMO), DY 30/IV 2/2.037/23, Bl. 13-22, hier Bl. 20.
  13. Elisabeth Noelle-Neumann, Manifeste und latente Funktion Öffentlicher Meinung, in: Publizistik 37 (1992), S. 283-297.
  14. Vgl. Ina Merkel/Felix Mühlberg, Eingaben und Öffentlichkeit, in: Ina Merkel (Hrsg.), Wir sind doch nicht die Meckerecke der Nation! Briefe an das Fernsehen der DDR, Berlin 2000, S. 11-46.
  15. Vgl. Ellen Bos, Leserbriefe in der DDR. Zur „Massenverbundenheit“ der Presse 1949-1989, Opladen 1993.
  16. Zentrale Revisionskommission, Hinweise für die Prüfung „Die Arbeit mit den Leserbriefen in den Redaktionen der Parteizeitungen“, April 1980, BArch-SAPMO DY 30/IV 2/2.037/23, Bl. 9-11.
  17. Zentrale Revisionskommission, Bericht, Bl. 17; vgl. auch Seibt an Herrmann, 18.9.1985, BArch-SAPMO, DY 30/IV 2/2.037/24, Bl. 83-97.
  18. Abteilung Agitation, Probleme und Tendenzen – zusammengestellt aus Berichten der Presse, des Rundfunks, des Fernsehens, des ADN und des Nationalrates der Nationalen Front der DDR, 10.2.1978, BArch-SAPMO, DY 30/IV 2/2.037/14, Bl. 1-5.
  19. BArch-SAPMO, DY 30/IV 2/2.037/37, Bl. 100f.
  20. Wessel an Herrmann, 11.11.1987, BArch-SAPMO, DY 30/IV 2/2.037/50, Bl. 159; vgl. auch Bl. 160-171.
  21. Brief von Wessel, 9.11.1987, ebd., Bl. 162-165.
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