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Westdeutsche Studentenbewegung Version 1.0 Mareike Wittkowski
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From DDR-Presse: Beitraege und Materialien

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Hauptfoto: File:Demonstration gegen Notstandsgesetze Bremen.jpg
Mitglieder des Theaters am Goetheplatz in Bremen demonstrieren gegen die Notstandsgesetze, Bremen Mai 1968. Foto: G. Friedrich.
„Jugendliche rebellieren gegen System der Knüppel und Pistolen.“ Die westdeutsche Studentenbewegung in der Presse der DDR
von: Mareike Witkowski veröffentlicht: 27.02.2012
Männer mit langen Haaren und Studierende in Jeans, die laute Beatmusik hörten, waren auf beiden Seiten der Mauer nicht erwünscht. Als diese jungen Männer und Frauen im Westen den Aufstand gegen ihre Regierung probten, musste dies jedoch das Interesse der DDR-Führung wecken, zumal sich die Protestierenden als links und zu einem Großteil auch als sozialistisch verstanden. Damit schien einzutreffen, was die Presse der DDR seit langem prognostiziert hatte: Die Bevölkerung der Bundesrepublik begann gegen das System aufzubegehren und eine Alternative zum Kapitalismus einzufordern. Dass es die Studenten und nicht die Arbeiter waren, die auf die Straße gingen, deckte sich allerdings nicht mit den Vorstellungen der in der DDR proklamierten marxistischen Theorie. Die Berichterstattung in den DDR-Medien sah sich vor die Herausforderung gestellt, über die Studentenbewegung zu berichten und sie in die eigenen ideologischen Vorstellungen einzupassen. Der mit den Protesten einhergehende Wandel des Lebensstils wurde jedoch aus der Berichterstattung ausgeblendet. Der Anziehungskraft von westlicher Musik und Bekleidung sowie dem lässigen Habitus der Demonstranten wollte die SED nicht noch Vorschub leisten. Die „Ansteckungsgefahr" für die eigene Jugend durch die westlichen Protestbewegungen sollte gering gehalten werden. Seit dem Frühjahr 1968 mussten sich die DDR-Medien gleichzeitig mit der Entwicklung in der Tschechoslowakei auseinandersetzen. Das am 5. April von der KPČ vorgestellte Reformprogramm, das auch Meinungs- und Pressefreiheit vorsah, fand über die Westmedien und durch eigene oder fremde Reiseerlebnisse auch in der DDR Verbreitung, vor allem bei einem Teil der jüngeren Bevölkerung.[1]
Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der Darstellung der westdeutschen Studentenunruhen in der DDR-Presse. Dabei wird den damit verbundenen Umdeutungs- und Inszenierungspraktiken der Medien nachgegangen, um die Intentionen der SED-Führung zu hinterfragen. Grundlage des Aufsatzes bildet die Untersuchung der Printmedien „Neues Deutschland", „Junge Welt" und „Forum" sowie der Fernsehsendung „Der schwarze Kanal" für den Zeitraum 1967 bis 1969. Da das „Neue Deutschland" und die „Junge Welt" die Leitmedien unter den SED-Blättern waren, an denen sich andere Zeitungen auszurichten hatten, können die Ergebnisse als repräsentativ für die SED-Medien der DDR gewertet werden. Die Studentenzeitschrift „Forum" war nicht auf Tagesaktualität ausgelegt und richtete sich an ein höher gebildetes Publikum. Daher konnte diese wesentlich umfangreicher und differenzierter über die Studentenbewegung berichten.[2] Die Presse der DDR konstruierte ein Bild, das mit den eigenen ideologischen Grundsätzen übereinstimmte, der Abgrenzung gegenüber der Bundesrepublik und der positiven Selbstdarstellung diente. Sie propagierte die politische und moralische Überlegenheit gegenüber dem Westen. Der von Georg Picht in die Diskussion eingebrachte Begriff der westdeutschen „Bildungskatastrophe" ermöglichte es der DDR, sich auf dem Gebiet der Bildung als überlegen darzustellen.[3] Auch die Schilderung der Rolle der Arbeiter während der studentischen Proteste und die Berichterstattung über die Vorgänge in Prag nutzte die DDR-Presse, um sich als den „besseren" der beiden deutschen Staaten zu präsentieren.

„Neu verpackter Faschismus".[4] Die Bundesrepublik in der Kontinuität des Nationalsozialismus

Die Bundesrepublik Deutschland wurde von Seiten der DDR als „postfaschistischer", „potentiell faschistischer" oder auch als „faschistischer" Staat charakterisiert. Die Zeitungsberichte über die westdeutschen Studentenunruhen wiesen, wie auch die übrige Berichterstattung über die Bundesrepublik, wiederholt auf die Kontinuität in der Entwicklung vom Ende der Weimarer Republik zum Nationalsozialismus und schließlich zur Bundesrepublik hin. Auf diese Deutung griffen die SED-Medien bereits in den ersten Berichten über das Vorgehen des Berliner Senats und der Polizei anlässlich des Schah-Besuchs am 2. Juni 1967 zurück. Die Argumentationslinie gab dabei die Abteilung Agitation und Propaganda des ZK der SED vor. Über tägliche Telefonate und fernschriftliche Anweisungen, die sich auf Inhaltliches und Formales bezogen, stellte die SED sicher, dass die Berichterstattung in ihrem Sinne erfolgte.[5] In einer Anweisung vom 3. Juni 1967 hieß es: „Die Störung von Ruhe und Ordnung von Westberlin hat nicht im demokratischen Aufbegehren der Studenten ihre Ursache, sondern im Vorgehen des faschistisch durchsetzten Polizeiapparates, seiner politischen Auftraggeber und regierenden Hintermänner."[6] Gemäß dieser Vorgabe lautete u.a. der Bericht im „Neuen Deutschland" vier Tage später: „Die Westberliner Polizei, die am vergangenen Blutfreitag ein grausames Massaker unter den demonstrierenden Studenten anrichtete und den 26jährigen Benno Ohnesorg ermordete, stützt sich bei ihren Terroraktionen auf die ‚Erfahrungen' schwerbelasteter Gestapo-, SD- und SS-Anhänger, die heute verantwortliche Positionen in ihren Reihen einnehmen."[7] Der Darstellung folgte ein Auszug aus dem in der DDR erstellten „Braunbuch"[8] aus dem Jahr 1965. Diesem konnte der Leser die Werdegänge von sechzehn Polizisten mit ihren Positionen in SS, SA, Gestapo und Wehrmacht entnehmen. Ob die aufgelisteten Personen am 2. Juni im Einsatz waren, wird aus der Aufstellung nicht ersichtlich. Aufgrund der lang aufgeführten Werdegänge vor 1945 ist jedoch zu vermuten, dass einige unter ihnen gar nicht mehr berufstätig waren. Die Einleitung des Artikels vermittelte dem Leser den Eindruck einer ungebrochenen Kontinuität zwischen der SS, SA und der Berliner Polizei im Jahr 1967.[9] Vor allem dem Führungspersonal der Polizei unterstellten die Medien eine nahtlose, über 1945 hinausgehende Karriere. Den Westberliner Polizeipräsidenten Erich Duensing stellte das „Neue Deutschland" in eine Linie mit den früheren Kommandanten von Buchenwald: „Und nach den fehlenden Schädelknochen des ermordeten Benno Ohnesorg befragt, antwortete derselbe Duensing beinahe gelangweilt, ihm sei ja schließlich ein ganzer Plastikbeutel mit Knochenresten übergeben worden. Ob es viel kaltschnäuziger geklungen hat, als vor 25 Jahren die Buchenwaldkommandeure über die präparierten Schrumpfköpfe ihrer Opfer fachsimpelten?"[10]

In den Pressetexten im „Neuen Deutschland", im „Forum" und der „Jungen Welt" wird nicht nur die Westberliner Polizei herangezogen, um ideologische und personelle Kontinuitäten zum Nationalsozialismus anzuklagen. Seit 1964 hatte der SED-Chefpropagandist Albert Norden Materialien in Umlauf gebracht, welche die Beteiligung des Bundespräsidenten Heinrich Lübke am Bau eines KZ-Außenlagers in Peenemünde beweisen sollten.[11] Wenn der Bundespräsident in den Pressetexten über die Studentenunruhen auftaucht, so ist fast ausschließlich vom „KZ-Baumeister" Lübke die Rede. In der Berichterstattung über den Polizeibeamten Karl-Heinz Kurras, der am 2. Juni 1967 Benno Ohnesorg erschoss, wird ebenfalls ein Vergleich zum Nationalsozialismus gezogen: „[…] In dieser Situation fand Kurras das Format eines vertierten KZ-Mörders. Er ‚überwandt den inneren Schweinehund' und schoß dem Studenten ins Genick."[12] Der Fall Kurras geriet im Mai 2009 erneut in die Schlagzeilen, als bekannt wurde, dass er für die Stasi tätig gewesen war.[13] Dies löste eine Debatte darüber aus, ob die Geschichte der „68er" neu geschrieben werden müsse. Hinweise, dass Kurras vom MfS beauftragt worden war, einen Studenten zu erschießen, um somit eine Eskalation herbeizuführen, sind nicht gefunden worden. Dies gilt auch als unwahrscheinlich, da die Staatssicherheit selbst von den Ereignissen überrascht war.
Die Presse der DDR nutzte den Mord, um eine Traditionslinie von den einstigen KZ-Aufsehern bis zur Berliner Polizei im Jahre 1967 herauszustellen. Unter der Überschrift „Namenslisten fürs KZ" berichtete das „Neue Deutschland" am 22. April 1968, dass die während der Osterunruhen aufgenommenen Personendaten dazu dienen würden, im Falle eines Notstands Aufenthaltsbeschränkungen und gegebenenfalls Arbeitsverpflichtungen verhängen zu können. In dem Bericht selbst ist von „KZ" keine Rede mehr, nur von „geräumten Polizeikasernen", in denen „Rädelsführer" inhaftiert werden sollten.
Die Abteilung Agitation gab nicht nur die Argumentationslinien, sondern auch die journalistische Form der Berichterstattung vor. So erging die „Bitte […] um eine breite Berichterstattung, die (vor allem mit Zitaten aus westlichen Quellen) alle Einzelheiten der ungeheuerlichen Verbrechen in Westberlin wirkungsvoll in Wort und Bild widerspiegelt und zugleich die von Tag zu Tag anwachsende Protestbewegung der Studenten und anderer Bevölkerungsschichten in Westberlin und Westdeutschland darstellt".[14] Diese „Bitte" war eine Anweisung. Der Direktive, Zitate aus westlichen Quellen zu verwenden, wurde in der Presse geflissentlich Folge geleistet, wobei die eher liberalen Zeitungen wie der Westberliner „Tagesspiegel", die „Frankfurter Rundschau", der „Stern" und die Nachrichtenagentur „dpa" die häufigsten Quellen bildeten. Neben der Verwendung von Auszügen aus westlichen Zeitungen wurde in der Berichterstattung über die Studentenunruhen verstärkt auf Zitate von demonstrierenden Studenten und anderen Augenzeugen zurückgegriffen. Stellungnahmen von Betroffenen suggerierten, dass es sich nicht um die Meinung der Partei handele, wie es der Leser von den SED- bzw. FDJ-Verlautbarungsorganen gewohnt war, sondern um eine „wirklichkeitsnahe" Wiedergabe der Geschehnisse.
In der Berichterstattung über die Studentenbewegung hob die Presse der DDR immer wieder auf den in der Bundesrepublik vermeintlich weit verbreiteten Rechtsradikalismus ab. Besonders gut passte es daher in das Bild, dass Josef Bachmann, als er am 11. April 1968 Rudi Dutschke niederschoss, einen Artikel der rechtsradikalen „Deutschen National-Zeitung" bei sich trug. Um die These von einem zunehmenden Rechtsradikalismus zu stützen, traten die DDR-Medien der westlichen Deutung entgegen, es habe sich bei Bachmann um einen verwirrten Einzeltäter gehandelt. In der Fernsehsendung „Der schwarze Kanal" verbreitete der Kommentator Karl-Eduard von Schnitzler: „Ein ‚Zugereister', ein ‚Verrückter' oder ein ‚Einzelgänger' war am Werk – kurz: Eine Art Oswald. Der soll's ja auch ganz alleine gewesen sein. Nur: wer zeigte Bachmann das Ziel? Woher sein Haß und seine Schießlust? Lebte Bachmann in einem luftleeren Raum? Wie kommt einer, der 1945 geboren wurde, zu Hitler-Bildern und Hitler-Gedanken? Kommen Brutalisierung und Mordlust aus heiterem Himmel? Warum verübte er sein Attentat nicht auf Strauss oder Thadden, sondern auf Rudi Dutschke? Ganz so ‚zugereist' oder ‚verrückt' kann er wohl doch nicht sein […]."[15] Im „Neuen Deutschland" antwortete der stellvertretende Chefredakteur Günter Kertzscher seinen Lesern auf diese Fragen: „Er hat also in einer Umwelt gelebt, in einem System, in dem er zum Nazi werden konnte. Er kam aus der Bundesrepublik. In diesem Staat ist ein KZ-Baumeister Bundespräsident, ein Nazipropagandachef Bundeskanzler."[16] Die Tatsache, dass Bachmann bis zu seinem zwölften Lebensjahr in der DDR gelebt hatte, erwähnte die Presse nicht.
So nutzten die SED-Medien die Berichterstattung über die Studentenunruhen, um die Bundesrepublik als den Staat darzustellen, der nicht mit dem Faschismus gebrochen habe und in dem sich der Rechtsradikalismus ungehindert ausbreiten könne. Auf den ersten Blick verwundert es daher, dass die generationsspezifischen Auseinandersetzungen um die Rolle der Eltern in der Zeit des Nationalsozialismus keinerlei Erwähnung fanden. Dies hätte jedoch bedeutet, die Auseinandersetzungen nicht als Zeichen des sich zuspitzenden Klassenkampfes interpretieren zu können.
Der „antifaschistische Gründungsmythos" gehörte zu den wirkungsmächtigsten Mythen der DDR.[17] Er diente von Beginn an als Macht- und Herrschaftsinstrument. Die Bezeichnung „Faschist" bedeutete, besonders in der Frühphase der DDR, den höchsten Grad der Ächtung. Wer als „Faschist" eingestuft wurde, entschied allein die Partei. Die Selbstdarstellung der DDR als alleiniger deutscher Staat, der sich konsequent aller faschistischer Elemente entledigt habe, zielte stets auch auf eine Abgrenzung von der Bundesrepublik. Dieser Alleinstellungstopos der DDR als antifaschistischer Staat war Ende der 1960er-Jahre so fest in der ritualisierten Berichterstattung etabliert und im Sprachduktus der Presse verankert, dass er in der Darstellung über die Bundesrepublik als faschistischer Staat immer mitschwang. In zahlreichen Berichten wurde die Gegenüberstellung jedoch auch explizit gemacht. In „Der schwarze Kanal" kommentierte Karl-Eduard von Schnitzler einen Redebeitrag von Ulrike Meinhof: „Wer hat nun recht behalten: Lübke, der die Springer-Kloake einen ‚klaren Quell' nennt (eine Hand wäscht die andere: Nennst Du mich nicht KZ-Baumeister, nenne ich Dich nicht Dreckschleuder ...) – wer also hat recht behalten: Lübke oder die junge intelligente Sozialistin aus Westberlin? Dem Polizeiterror fiel Benno Ohnesorg zum Opfer, dem SA-Terror Rudi Dutschke […]."[18] Zum Ende des Berichts positionierte Karl-Eduard von Schnitzler die DDR als Partner aller westdeutschen Antifaschisten und Demokraten: „Die Imperialisten konnten nicht verhindern, daß mit der Deutschen Demokratischen Republik alle deutschen Antifaschisten und Demokraten einen festen, zuverlässigen, starken Verbündeten haben."[19] Dass in der Bundesrepublik ein ganz anderer Begriff von Demokratie Gültigkeit hatte, überging der Beitrag.

Angriffspunkt „Notstandsdiktatur".[20] Die Bundesrepublik als repressiver Staat

Auch die Charakterisierung der Bundesrepublik als ein etabliertes repressives System findet sich in den Pressetexten im untersuchten Zeitraum wieder. Als Beleg für diese Behauptung zog die Presse das als „brutal" beschriebene Vorgehen der Polizei gegen die Studenten und die zahlreichen Justizverfahren gegen Demonstranten heran. Die Polizei der Bundesrepublik war beispielsweise im Zusammenhang mit den Ereignissen des 2. Juni 1967 häufig als „Knüppelgarde",[21] „Mordpolizisten",[22] „Schlägertruppe",[23] „Polizeibüttel",[24] „Albertz-Polizei"[25] oder „Albertz-Knüppelgarde"[26] bezeichnet und damit zum Instrument der Mächtigen zur Unterdrückung der Bevölkerung deklariert worden. Zudem wurde die repressive Innenpolitik als eine Vorstufe zu einer expansiven Außenpolitik bewertet. Den westdeutschen Politikern wurde vorgeworfen, sie würden zunächst Ruhe im Inneren schaffen wollen, um dann mit ganzer Kraft ihr revanchistisches Programm durchführen zu können. Die in der Bundesrepublik geplante Verabschiedung der Notstandsgesetze eigneten sich für die Presse der DDR bestens, um diese These zu untermauern. Fast alle Berichte über die Studentenunruhen wiesen auf diese Gesetze hin: Die Ereignisse des 2. Juni 1967 wurden als „Notstandsübung"[27] und Benno Ohnesorg als erstes „Notstandsopfer", das „zur Mahnung an alle geworden" sei, gewertet. Die Verknüpfung des Todes von Ohnesorg mit den Notstandsgesetzen, die bis dahin als juristischer Fall galten, ließen diese als eine konkrete Bedrohung erscheinen.[28]

Zur Einordnung der Studentenbewegung in die Argumentation gegen die Notstandsgesetze bedurfte es in der untersuchten Presse häufig keiner ausführlichen Erklärung. Die Redakteure deuteten die Polizei in „Notstandspolizei",[29] die Politiker in „Notstandspolitiker",[30] die Verfassung in „Notstandsverfassung",[31] die Gerichte in „Notstandsgerichte"[32] und die Polizeieinsätze in „Notstandseinsätze"[33] um und stellten damit einen Bezug zwischen dem aktuellen Geschehen, wie einer Demonstration der Studenten, und den Gesetzen her. Den Verweis auf die Notstandsgesetze verwendeten die untersuchten Medien als Synonym für mehrere der Bundesrepublik zugeschriebene Eigenschaften, um in erster Linie den angeblich repressiven Charakter des Systems in der Bundesrepublik zu verdeutlichen, das auf Einschüchterung der eigenen Bevölkerung setze.

Die Verabschiedung der Notstandsgesetze am 30. Mai 1968 brachte die DDR-Presse in Argumentationsprobleme, da es nicht wie prognostiziert zu verschärften Repressionen und diktatorischen Zuständen kam. Der Kampf gegen die Notstandsgesetze hatte eine Klammer um die unterschiedlichen westdeutschen Protestgruppen gebildet. Als diese wegfiel, brach auch die Bewegung auseinander. Das „Neue Deutschland" setzte sich in einer für seine Leser ungewohnten Form mit der Situation der Demonstrierenden nach der Gesetzesverabschiedung auseinander. Die gewöhnlicherweise aus Nachrichten, Berichten und Dokumentationen bestehende Zeitung druckte am 10. Juli 1968 auf einer ganzen Seite die „Antwort auf Fragen eines Tübinger Studenten" ab.[34] Der ursprüngliche Brief wurde nur in Auszügen wiedergegeben, aus denen der Leser erfuhr, dass „manche" Akteure der außerparlamentarischen Bewegung enttäuscht darüber seien, dass sie es nicht vermocht hätten, die Notstandsgesetze zu verhindern, und sich nun fragen würden, wie es weitergehen solle.[35] Der antwortende Redakteur, Harri Czepuck, kontrastierte die Situation in der Bundesrepublik mit jener in der DDR: „Die DDR und ihre Bürger wissen sich gegen die Expansionspolitik der westdeutschen Militaristen zu schützen. Mit den jüngsten Maßnahmen [gemeint ist die Verfassungsreform von 1968] zur Sicherung der DDR und zur Abwehr des Neonazismus haben Regierung und Volkskammer allen aggressiven Machenschaften der westdeutschen Notstandspolitiker erneut einen Riegel vorgeschoben."[36] In der Bundesrepublik sei die Situation hingegen gänzlich anders: „Die Bevölkerung der westdeutschen Bundesrepublik aber lebt jetzt unter dem Damoklesschwert der Notstandsgesetze, und es steht außer Zweifel, daß die Bonner Koalitionsregierung, deren Hauptziel es ist, die Niederlage des zweiten Weltkrieges zu revidieren, die Gesetze zur politischen und ökonomischen Sicherung ihrer Macht im Inneren und zur Durchsetzung ihrer Expansionspolitik nach außen einsetzen will."[37]

Die DDR-Presse nutzte nicht nur die Berichte von den Demonstrationen gegen die Notstandsgesetze, um sich positiv gegenüber der vermeintlich repressiven Bundesrepublik abzugrenzen. Vor allem die umfangreiche Berichterstattung über die Überführung des Leichnams von Benno Ohnesorg nach Hannover und die Beisetzung zeigen dies. Das „Neue Deutschland" berichtete ausführlich und widmete dem „letzten Weg Benno Ohnesorgs" am 10. Juni 1967 fast eine ganze Seite: „Pünktlich um 17.45 Uhr, dem zwischen den staatlichen Stellen der DDR und der Westberliner Studentenvertretung vereinbarten Zeitpunkt, passierte der Trauergeleitzug den Kontrollpunkt Drewitz […]. Zuletzt hatten Vertreter der Bezirkszollverwaltung Potsdam und Offiziere der Grenztruppen der Nationalen Volksarmee als letzten Gruß an den ermordeten Studenten rote Nelkensträuße überreicht. Eine Motorradstaffel der Volkspolizei eskortierte den Konvoi. Einige hundert Meter vom Kontrollpunkt entfernt, begann das kilometerlange Spalier, das Studenten und Professoren der pädagogischen Hochschule Potsdam sowie junge Arbeiter aus den Betrieben der Bezirkshauptstadt und Vertreter der FDJ-Organisationen gebildet hatten. […] Als der Trauerzug heranfuhr, senkten sich die FDJ-Fahnen und DDR-Staatsflaggen mit den Trauerfloren. Der Trauerzug geriet einen Augenblick ins Stocken: FDJler überreichten den Westberliner Studenten, die den Sarg begleiteten, Sträuße roter Nelken."[38]

Die Ehrungen, die Benno Ohnesorg zuteil wurden, erinnerten an ein Staatsbegräbnis. Der Artikel nennt als Akteure die Bezirksverwaltung, die Nationale Volksarmee, die Volkspolizei, die Arbeiterschaft sowie die Studenten und die Professoren. Nicht nur die Regierung der DDR, sondern die gesamte Bevölkerung, so der unterschwellige Tenor, stehe an der Seite der demonstrierenden Studenten. Ganz im Gegensatz dazu sei die Regierung der Bundesrepublik, so die DDR-Presse, allein auf die Unterdrückung der Bewegung aus. Die Berichte in der Studentenzeitschrift „Forum" geben einen Hinweis darauf, warum die SED so viel Wert auf die Inszenierung der Fahrt durch die DDR und die ausführliche Berichterstattung legte: „Die Mädchen und Jungen aus der DDR wußten zunächst nicht, ob man ihr Mitgefühl akzeptieren würde. Es wurde akzeptiert. Und so bleibt schließlich die Hoffnung, daß die Westberliner Studenten im Interesse ihres Kampfes von nun an nie vergessen mögen, daß sie hier, in der DDR, verläßliche Freunde im Ringen um Freiheit, Menschlichkeit und sozialen Fortschritt haben."[39] Die SED sandte damit ein Signal sowohl in die Bundesrepublik als auch in das eigene Land. Der westdeutschen Jugend signalisierte sie, dass ihr Aufbegehren unterstützt werde. Das wichtigere Signal ging jedoch an die eigene Jugend. Die SED und vor allem die FDJ stellten sich an die Seite der westdeutschen Studenten. Protesten im eigenen Land sollte vorgebeugt werden, indem man sich selbst als fortschrittlich präsentierte und damit auch indirekt propagierte, dass es ähnliche Demonstrationen in der DDR nicht geben könne, da hier eine Interesseneinheit zwischen der Staatsleitung und der Jugend bestände.

„Arbeiter und Studenten unter roten Fahnen"[40]. Die Umdeutung der Studentenbewegung in eine Studenten- und Arbeiterbewegung

Laut der leninistisch-marxistischen Ideologie war die Arbeiterklasse die „tragende Kraft" im Klassenkampf. In der Bundesrepublik gingen die Unruhen der Jahre 1967 bis 1969 jedoch von den Studenten aus. Arbeiter beteiligten sich nur sehr vereinzelt an deren Aktionen. Diese offensichtliche Diskrepanz zwischen der eigenen Ideologie und den Ereignissen in Westdeutschland und Westberlin versuchte die DDR-Presse auszuräumen. Die „Junge Welt" druckte den Brief einer Leserin ab, der genau auf dieses Missverhältnis zwischen Theorie und Wirklichkeit verwies. Die FDJ-Zeitung antwortete ganz auf der ideologischen Linie der SED: „Auch in Bonn und Schöneberg laufen die Uhren nicht rückwärts. Auch dort kann man die Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung nicht aufheben, so gerne man das tun möchte und so wild man sich gebärdet. Daher ist und bleibt auch in Westberlin die Arbeiterklasse die revolutionäre Klasse."[41] Die Tatsache, dass die Arbeiterklasse ihre Rolle aber noch nicht wahrnähme, erklärte der Artikel mit den kapitalistischen Verhältnissen in der Bundesrepublik: „Dies heißt nicht, daß jeder Arbeiter seine Klassenlage richtig begreife, zumal die Bourgeoisie und sogenannte rechte Arbeiterführer sich redlich mühen, ihn durch ihre Propaganda zu verwirren […]." Mit den „rechten Arbeiterführern" waren die Gewerkschaftsführer gemeint, die scharf von der SED dafür angegriffen wurden, dass sie sich nicht bedingungslos auf die Seite der Studenten gestellt hätten.

Die DDR-Medien suggerierten in ihrer Berichterstattung über die Studentenbewegung konsequent einen gemeinsamen Kampf von Studenten und Arbeitern. Dies zeigt bereits die Betrachtung einiger Überschriften von Artikeln zum Tod Benno Ohnesorgs: „Arbeiter solidarisch"[42], „Arbeiter marschieren neben Studenten",[43] „Westberliner Gewerkschaftsfunktionäre: Wir stehen zu den Studenten, gegen den Polizeiterror"[44] und „Professor Abendroth in Hannover: Schließen wir uns mit den Arbeitern zusammen"[45]. Auch in den Berichten über das Attentat auf Rudi Dutschke am 11. April 1968 und den sich anschließenden Osterunruhen betonten die untersuchten Tageszeitungen die gemeinsame Front der Demonstranten und Arbeiter. Am 15. April 1968 erschien das „Neue Deutschland" mit der Schlagzeile „Antifaschistische Einheitsfront in Westberlin gebildet" .[46] Die in den Ostertagen eskalierende Gewalt führte allerdings tatsächlich eher zu einer weiteren Distanzierung der Gewerkschaften von der Studentenbewegung.[47] Dies klammerte die Berichterstattung in der untersuchten Presse jedoch systematisch aus und hob Aspekte hervor, die in ihre Argumentationslinie passten.

Der traditionelle Tag der Arbeit am 1. Mai eignete sich besonders gut, um die Einheit von Studenten und Arbeitern darzustellen. Dabei verwies die DDR-Presse vor allem auf die Notwendigkeit eines gemeinsamen Kampfes von Arbeitern und Studenten hin. Nur so könnten sie den Herrschenden gefährlich werden. Die Beziehungen der Studenten zu den Gewerkschaften hatten sich jedoch bereits so stark abgekühlt, dass den Studentenvertretern das Rederecht auf den gewerkschaftlichen Veranstaltungen zum 1. Mai verwehrt wurde.[48] Dies wurde in der untersuchten Presse allerdings nicht erwähnt. Nicht nur in den Berichten im Umfeld des 1. Mai, sondern generell auffällig ist die häufige Erwähnung der „roten Fahne". Durch den Hinweis auf das Symbol der Arbeiterschaft konnte die Verbindung zur Arbeiterbewegung unterstrichen werden. Gleichzeitig sollte die Erwähnung der roten Fahne auch auf die Nähe der Studentenbewegung zum Sozialismus hinweisen und dessen ungebrochene Faszinationskraft zeigen. Die Berichte über das Singen von Arbeiterliedern hatten die gleiche Funktion. Sie sollten ebenfalls unterstreichen, dass der Protest von den Arbeitern mitgetragen wurde. Im Artikel „20 000 gegen US-Aggressionen" berichtete die FDJ-Zeitung: „Alte Kampflieder, alte Arbeiterlieder rufen die Sympathie der Spaliersteher hervor."[49] Und das „Forum" schrieb: „Hier sammelten sich die Demonstranten während eine Kapelle für viele Ohren langentbehrte Arbeiterlieder spielte."[50] Die Tatsache, dass es fast ausschließlich Schüler und Studenten waren, die demonstrierten, deutete die Presse der DDR um: Die Studentenbewegung wurde zu einer Studenten- und Arbeiterbewegung.

Wurden bis hierher vor allem die Umdeutungen, die die Presse vornahm, betrachtet, so geht es im Folgenden um zwei weitere Ereignisse, die in der Berichterstattung über die Studentenbewegung als Negativfolie genutzt wurden, um die Errungenschaften der DDR herauszustellen: die Bildungspolitik in der Bundesrepublik und der Prager Frühling.

„Präsidialverfassung, Zugangsbeschränkung, Ordnungsrecht". Bildungspolitik und Hochschulreform in der Bundesrepublik

Mit den Schlagworten „Präsidialverfassung", „Zugangsbeschränkung" und „Ordnungsrecht" verwies ein Bericht im „Forum" auf den vermeintlich rückständigen Charakter der westdeutschen Hochschulen.[51] Die Rückständigkeit wurde in der Berichterstattung der Presse an Berichte über die Entwicklungen in der DDR gekoppelt. In den Jahren 1967/68 wurden in der DDR vor allem zwei Reformvorhaben auf den Weg gebracht: Die Verfassungsreform und die 3. Hochschulreform.[52] Beide Projekte wurden in der Presse im Zusammenhang mit den Studentenunruhen erwähnt und als positiver Gegenpol zu der Entwicklung in der Bundesrepublik herausgestellt. Im Frühjahr 1965 wurde die Bildungsreform im Zuge der Modernisierungsbestrebungen, die mit dem Neuen Ökonomischen System der Planung und Leitung (NÖSPL)[53] einhergingen, durch das „Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem" eingeleitet.[54] Dies geschah zu dem Zeitpunkt, als die Debatte in der Bundesrepublik über die „deutsche Bildungskatastrophe" gerade begonnen hatte. Die DDR schien die Antwort darauf bereits gefunden zu haben und der Bundesrepublik damit einen Schritt voraus zu sein. Vor allem die Studentenzeitschrift „Forum" berichtete wiederholt von den Forderungen der Studierenden nach einer Bildungsreform. In dem Artikel „Unsere Unruhen" vom Dezember 1967 hieß es nach der Einleitung, die von der „produktiven Zusammenarbeit" der DDR-Studenten „mit ihren Professoren bei der Ausarbeitung optimaler Studienpläne" berichtete: „Die Studenten Westberlins und Dutzender westdeutscher Universitäten spüren den Epochenrückstand immer schmerzlicher und protestieren gegen politische Reaktion und Fachidiotentum, gegen das mittelalterliche Ausbildungssystem im Bonner Staat."[55] Eine der Hauptforderungen der protestierenden Studenten war die akademische Mitbestimmung. Die Presse griff diese Forderung auf, um zugleich darauf hinzuweisen, dass diese an den eigenen Hochschulen bereits etabliert wäre und „eine wesentliche Grundlage zur erfolgreichen Weiterführung der sozialistischen Hochschulreform" darstelle.[56]

Im Zusammenhang mit den hochschulpolitischen Reformen wies die Presse wiederholt auf die Kontinuität der westdeutschen Hochschuldozenten über die Zäsur von 1945 hinaus hin. Die bürgerliche Universität habe sich „als unfähig" erwiesen, „einen grundsätzlichen Bruch mit der eigenen faschistischen Vergangenheit herbeizuführen und einen prinzipiellen antifaschistisch-demokratischen Neubeginn zu begründen". In der DDR hingegen sei der „Nazismus und Militarismus ausgerottet" worden.[57]

„Bericht aus Prag"[58]. Der Prager Frühling und die westdeutsche Studentenbewegung

Mit dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten in die Tschechoslowakei am 21. August 1968 brach die kontinuierliche Berichterstattung über die Studentenproteste für mehrere Wochen ab. Die SED-Medienfunktionäre schienen die vereinzelten Proteste nicht durch zusätzliche Berichte über Unruhen, die möglicherweise zur breiteren Nachahmung hätten anregen können, anfachen zu wollen. Die Medien der DDR verurteilten alle reformsozialistischen Bestrebungen, wurde doch dadurch auch ihre Macht in Frage gestellt. Im ersten Novemberheft 1968 setzte sich das „Forum" mit den Sympathiebekundungen westlicher Studenten für die Aufständischen auseinander. Der Beitrag griff die westdeutschen und Westberliner Studenten scharf an und warf ihnen einen „Antikommunismus von links" vor. Die Studenten waren in der Presse der DDR bislang ausnahmslos positiv dargestellt worden, im Zusammenhang mit dem Prager Frühling jedoch änderte die DDR-Presse ihren Ton. Unterschied sie vor dem Ende des Prager Frühlings kaum zwischen den unterschiedlichen Studentengruppen, so änderte sich dies mit der Niederschlagung des Aufstandes. Gerade die anarchischen und antiautoritären Strömungen wurden nun als „gefährliche revisionistische Verirrungen" benannt und auch so dargestellt. Im „Forum" hieß es: „Anstatt nun die Herren in Bonn zu fragen, ob sie nicht den Arbeitern Kontrolle über die Bücher der Konzerne gewähren, endlich das Meinungsmonopol Springers beseitigen wollen, tuteten die Pseudolinken – zumindest gefährlich naiv – noch in dasselbe Horn."[59] Bereits in der nächsten Ausgabe kehrte die Studentenzeitschrift jedoch wieder zur positiven Darstellung zurück. Den anderen Umgangston machte bereits die Einleitung deutlich: „In den kapitalistischen Ländern hat es nach dem 21. August viele aufrechte Kämpfer gegen die imperialistische Ordnung gegeben, die […] die konterrevolutionäre Entwicklung in der ČSSR nicht durchschaut und deshalb Hilfsaktionen unserer Länder nicht verstanden und gebilligt haben. Wir wissen sehr wohl zu unterscheiden zwischen ihnen und eingefleischten Reaktionären und den revisionistischen Helfern der Konterrevolution. Wir halten darum die kameradschaftliche Auseinandersetzung mit unseren potentiellen Verbündeten für unsere Pflicht."[60] Hier zeigte sich der Versuch der SED-Medienfunktionäre, zwischen „revisionistischen Helfern der Konterrevolution" und den Studenten, die die Situation nur falsch verstanden hätten, zu unterscheiden. Der Artikel stellte die Berechtigung der einzelnen Forderungen gar nicht in Frage, sie seien nur nicht zu verwirklichen, solange der Sozialismus nicht überall herrsche. Dies richtete sich an diejenigen, die sich in ihren Hoffnungen auf Reformen durch die Niederschlagung des Prager Frühlings enttäuscht sahen. Sie wurden in Hinblick auf eine bessere Zukunft vertröstet und sollten durch den Hinweis, dass die „Demokratie als Volkssouveränität" und in „Formen echter Selbstbestimmung" im Sozialismus verwirklicht sei, von Protesten abgehalten werden.

„1968" als Erinnerungsort der politischen und moralischen Überlegenheit der DDR

Die DDR-Presse konstruierte „1968" als einen Erinnerungsort der politischen und moralischen Überlegenheit gegenüber der Bundesrepublik. Im Gedächtnis der DDR-Bürger sollte der andere Teil Deutschlands als jener verhaftet bleiben, in dem Unterdrückung und faschistische Tendenzen vorherrschten. Die Erinnerung an die Studentenbewegung sollte sich für die DDR-Bürger gleichzeitig mit der Mahnung verbinden, dass sie im „besseren" Deutschland leben würden. Die DDR-Presse deutete damit „1968" sowohl als einen „positiven" als auch „negativen" Erinnerungsort: positiv in Hinblick auf die Selbstdarstellung, negativ hinsichtlich der Darstellung der Bundesrepublik. Inwiefern diese Konstruktion erfolgreich war, lässt sich nur schwer beantworten. Die Darstellung der Bundesrepublik als faschistisch und revanchistisch durchzog die gesamte Berichterstattung vor und nach 1968, die Studentenbewegung war nur ein weiteres Ereignis, anhand dessen die DDR-Presse diese Charakteristika verdeutlichen konnte. Der Aufnahme des westdeutschen „1968" in das kollektive Gedächtnis der DDR-Bürger stand außerdem die stark ritualisierte Berichterstattung entgegen. Die immer wiederkehrenden Schlagworte wurden nicht nur in Hinblick auf die Studentenbewegung benutzt, sondern durchzogen die allgemeine Darstellung der Bundesrepublik. Die Reaktionen der Regierungsorgane auf die Demonstrationen der Jahre 1967 bis 1969 waren damit keine „erinnerungswürdigen" einmaligen Ereignisse, das Vorgehen gegen die Studenten wurde vielmehr systemimmanent begründet. Der in der DDR-Presse konstruierte Erinnerungsort wurde zudem überlagert von den Ereignissen in der Tschechoslowakei. Die dortigen Reformvorhaben, die Suche nach einem dritten Weg und die Niederschlagung dieser Ansätze fanden stärkeren Eingang in die Erinnerungen der DDR-Bürger, da all diese Ereignisse sie in einem viel stärkeren Maße direkt betrafen. Mit den politischen Vorstellungen der westlichen Studenten konnte nur eine Minderheit etwas anfangen, für viele waren deren Forderungen zu weit von ihrer eigenen Lebenswirklichkeit entfernt.[61] Die kulturellen Veränderungen, die mit einem veränderten Lebensstil einhergingen, waren für die DDR-Jugend wesentlich attraktiver als die intellektuellen Theorie-Debatten. In der DDR-Presse war davon allerdings im Zuge der Berichterstattung über die Studentenbewegung kaum etwas zu erfahren. Offensichtlich fürchtete die SED, dass die eigene Jugend schon durch die Presseberichte über die kulturellen und habituellen Erneuerungen zur Nachahmung und Auflehnung angeregt werden könnte.

Erinnerungsorte sind ephemere Erscheinungen, die auf engste an die Gegenwart gekoppelt sind. In der heutigen Berichterstattung über die Ereignisse von 1968 dominieren die kulturellen Veränderungen. Die Bilder der nackten Kommunarden, Rudi Dutschke im selbst gestrickten Pullover und beim Sit-in versammelte Studenten prägen die gesamtdeutsche Darstellung in den Medien. Der in der DDR-Presse konstruierte Erinnerungsort ist heute überlagert von der Vorstellung von „1968" als kultureller Revolution.

Anmerkungen

  1. Siehe hierzu: Stefan Wolle, Der Traum von der Revolte. Die DDR 1968, Berlin 2008, S. 87-92, S. 147-148.
  2. Ein Teil der untersuchten Artikel erschien anonym, um zu verdeutlichen, dass es sich um die „allgemeine“ Meinung und nicht um die einer Einzelperson handele. Im Folgenden wird, falls ein Autor ausgemacht werden kann, dieser angegeben. Ebenfalls herangezogen wurden die Akten der Abteilung Agitation des ZK der SED im Bundesarchiv (Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR, BArch-SAPMO), DY 30/IV A 2/9.02/ 1 bis 204.
  3. Im Jahr 1964 veröffentlichte Georg Picht sein Werk „Die deutsche Bildungskatastrophe“, in dem er die seiner Meinung nach mangelhafte Ausstattung der Universitäten und die zu niedrigen Abiturientenzahlen anprangerte und Reformen forderte. Er löste damit eine breite Debatte in der bundesdeutschen Öffentlichkeit darüber aus, ob das deutsche Bildungssystem noch den Anforderungen der Zeit entspreche.
  4. Ilona Regner, Neu verpackter Faschismus, in: Junge Welt, 22.8.1969, S. 4.
  5. Die fernschriftlichen Anweisungen gingen zumeist an folgende Presseorgane: Neues Deutschland, Junge Welt, Berliner Zeitung, Tribüne, BZ am Abend, Neue Deutsche Bauernzeitung, Abendzeitung Leipzig, Nowa Doba (sorbische Nachrichten), alle Bezirkszeitungen, Rundfunk, Deutscher Fernsehfunk, Presseamt, Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst (ADN). Das Forum erhielt seine Anweisungen von der Abteilung Agitation und Propaganda und der Abteilung Jugend beim Zentralkomitee der SED, aber auch die Abteilungen Wissenschaft, Kultur oder Volksbildung nahmen Einfluss auf die Berichterstattung der Studentenzeitschrift. Zu den Presseanweisungen im Detail siehe den Beitrag von Jürgen Wilke auf diesem Portal: Presseanweisungen. Organisation, Themen, Akteure, Sprachakte.
  6. BArch-SAPMO, DY/30/IV A 2.9.02/54.
  7. Die Stützen der Notstandspolizei, in: Neues Deutschland, 7.6.1967, S. 6.
  8. Braunbuch. Kriegs- und Naziverbrecher in der Bundesrepublik, hg. vom Nationalrat der Nationalen Front des demokratischen Deutschlands, Dokumentationszentrum der staatlichen Archivverwaltung der DDR, Berlin 1965, S. 104-107.
  9. Parallel zur Berichterstattung in den DDR-Medien übergaben Vertreter des Zentralrats der FDJ Studentenvertretern aus dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund der Bundesrepublik Materialien und Fotos über die „braune“ Vergangenheit der Westberliner Polizei. Siehe hierzu: Wolle, Der Traum von der Revolte, S. 98.
  10. Werner Otto, ND kommentiert, in: Neues Deutschland, 7.6.1967, S. 2.
  11. Siehe hierzu: Jochen Staadt, Die Lübke-Legende. Wie ein Bundespräsident zum KZ-Baumeister wurde, Teil I-II, in: Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat (ZdF) 18 (2005), S. 54-71 und 19 (2006), S. 107-124; ders., Die Lübke-Legende. Das Korruptionsverfahren von 1933/34 und seine Rezeptionsgeschichte, Teil III, ZdF 21 (2007), S. 18-27.
  12. Herbert Wolfgram, Ein Schuß – der Freiheit ins Genick, in: Forum 13 (1967), S. 13.
  13. Siehe hierzu: Cornelia Jabs/ Helmut Müller-Enbergs, Der 2. Juni 1967 und die Staatssicherheit, in: Deutschland Archiv 3 (2009), S. 395-400.
  14. BArch-SAPMO, DY/30/IV A 2.9.02/54. |
  15. Der schwarze Kanal, 15.4.1968, Deutsches Rundfunkarchiv E065-02-04_0001404. Adolf von Thadden war von 1967 bis 1971 Bundesvorsitzender der NPD.
  16. Günter Kertzscher, Nur ein Irrer?, in: Neues Deutschland, 15.4.1968, S. 3.
  17. Zum Antifaschismus als Gründungsmythos siehe: Herfried Münkler, Antifaschismus als Gründungsmythos der DDR. Abgrenzungsinstrument nach Westen und Herrschaftsmittel nach innen, in: Manfred Agethen/Eckhard Jesse/Ehrhart Neubert (Hrsg.), Der missbrauchte Antifaschismus. DDR-Staatsdoktrin und Lebenslüge der deutschen Linken, Freiburg 2002, S. 79-99.
  18. Der schwarze Kanal, 15.4.1968, Deutsches Rundfunkarchiv E065-02-04_0001404. Leider konnte nicht rekonstruiert werden, um welchen Redebeitrag Ulrike Meinhofs es sich handelte.
  19. Ebd.
  20. Grundsatzurteil der Notstandsdiktatur, in: Neues Deutschland, 23.7.1967, S. 7.
  21. Senat probt Notstand mit Ausnahmezustand, in: Neues Deutschland, 5.6.1967, S. 1.
  22. Senat verschärft Notstandsaktion, in: Neues Deutschland, 6.6.1967, S. 2.
  23. Heute gegen Studenten – morgen gegen uns, in: Neues Deutschland, 7.6.1967, S. 2.
  24. Westberliner Student ermordet – Toten misshandelt, in: Junge Welt, 5.6.1967, S. 1.
  25. Duensing: Wie eine ausgequetschte Leberwurst!, in: Junge Welt, 8.6.1967, S. 6. Heinrich Albertz war von Dezember 1966 bis Oktober 1967 Regierender Bürgermeister in Berlin.
  26. Unmenschlichkeit – Bestandteil imperialistischer Notstandspolitik, in: Junge Welt, 22.6.1967, S. 6.
  27. Kurt Baum, Ermordet von der deutschen Bourgeoisie, in: ?, 6.6.1967, S. 1.
  28. Dieter Wende, Das erste Notstandsopfer, in: Junge Welt, 14.6.1967, S. 4.
  29. Senat verschärft Notstandsaktion, in: Neues Deutschland, 6.6.1967, S. 2.
  30. Freispruch für den Mörder, in: Junge Welt, 23.11.1967, S. 1.
  31. Notstandsverfassung muß verhindert werden, in: Neues Deutschland, 13.6.1967, S. 6.
  32. Vor den Schnellrichter geschleppt, in: Junge Welt, 20./21.1.1968, S. 1.
  33. Notstand regiert, in: Junge Welt, 13.4.1968, S. 2.
  34. Harri Czepuck, Antwort auf Fragen eines Tübinger Studenten, in: Neues Deutschland, 10.7.1968, S. 6.
  35. Ob es diesen ursprünglichen Brief überhaupt gegeben hat oder ob dieser erfunden wurde, um auf eine ungewohnte Weise das Thema den Lesern näherzubringen, lässt sich leider heute nicht mehr nachvollziehen.
  36. Czepuck, Antwort auf Fragen eines Tübinger Studenten, S. 6. Die Verfassungsreform von 1968 war zum einen ein Versuch, sich internationale Reputation zu verschaffen. Zum anderen zog die DDR damit mit der Sowjetunion und den anderen Ostblockstaaten gleich, die ebenfalls in diesem Zeitraum ihre Verfassungen reformierten. Wichtigste Neuerung war der Artikel 1 Absatz 1, in dem die „führende Rolle der Partei“ nun auch gesetzlich festgehalten wurde. Die Bürger der DDR sollten an der Neufassung beteiligt werden. Allerdings war es nicht möglich, wesentliche Passagen zu ändern. So wurden die stark begrenzten Veränderungen, die von der Bevölkerung vorgeschlagen und auch umgesetzt worden waren, in den Medien mit großem Aufwand publik gemacht und als Mitbestimmungsrecht der Bürger propagiert. Zur Verfassungsreform siehe: Georg Brunner, Das Rechtsverständnis der SED (1961 1989), in: Materialien der Enquete Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED Diktatur in Deutschland“ (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), hg. vom Deutschen Bundestag, Baden-Baden 1995, S. 293-336, oder Wolle, Der Traum von der Revolte, S. 130-133. Harri Czepuck, (geboren 1927), Mitglied des Politbüros, 1949-1958 Redakteur des „Neuen Deutschland“, 1958-1962 Korrespondent in Bonn, 1967-1971 stellv. Chefredakteur des „Neues Deutschland“, wegen grundsätzlicher Differenzen mit dem Chefredakteur Joachim Herrmann über die Medienpolitik 1971 abgelöst, Mitautor von Fernsehfilmen u.a. „Ich – Axel Cäsar Springer“ (1968/69), 1971-1981 Vizepräsident der Internationalen Journalistenorganisation, ab 1984 freier Journalist, publiziert heute in der „Jungen Welt“.
  37. Ebd.
  38. Der letzte Weg Benno Ohnesorgs, in: Neues Deutschland, 10.6.1967, S. 9.
  39. Wolfgram, Ein Schuß – der Freiheit ins Genick, S. 14.
  40. Harri Czepuck/Günter Böhme, Arbeiter und Studenten unter roten Fahnen, in: Neues Deutschland, 2.5.1968, S. 6.
  41. Wer kämpft gegen den Notstand?, in: Junge Welt, 21.7.1967, S. 1.
  42. Arbeiter solidarisch, in: Neues Deutschland, 8.6.1967, S. 1.
  43. Arbeiter marschieren neben Studenten, in: ebd., S. 6.
  44. Westberliner Gewerkschaftsfunktionäre: Wir stehen zu den Studenten, gegen den Polizeiterror, in: Neues Deutschland, 9.6.1967, S. 6.
  45. Professor Abendroth in Hannover: Schließen wir uns mit den Arbeitern zusammen, in: Neues Deutschland, 11.6.1967, S. 8.
  46. Antifaschistische Einheitsfront in Westberlin gebildet, in: Neues Deutschland, 15.4.1968, S. 1.
  47. Marica Tolomelli, „Repressiv getrennt“ oder „organisch verbündet“. Studenten und Arbeiter in der Bundesrepublik Deutschland und in Italien, Opladen 2001, S. 196ff.
  48. Ebd., S. 199.
  49. Dennis Ruh/Dieter Wende, 20 000 gegen US-Aggressionen, in: Junge Welt, 19.2.1968, S. 2.
  50. Christian Zak, Die Chancen der neuen Opposition, in: Forum 9 (1968), S. 5.
  51. Präsidialverfassung, Zugangsbeschränkung, Ordnungsrecht – Staatsmonopolistische Hochschulreform, in: Forum Mai (1969), S. 8-9.
  52. Zur 3. Hochschulreform siehe: Matthias Middel, 1968 in der DDR. Das Beispiel der Hochschulreform, in: Etienne Francois/Matthias Middell/Emmanuel Terray/Dorothee Wierling (Hrsg.), 1968 – ein europäisches Jahr?, Leipzig 1997, S. 125-146.
  53. Zur Wirtschaftsreform (NÖS-Konzept) in der Presse siehe den Beitrag von André Steiner: „Umfassender Aufbau des Sozialismus“ oder ˏAnleihe beim Kapitalismus‘? Zur Darstellung des Konzepts der DDR-Wirtschaftsreform in der ost- und westdeutschen Tagespresse“ auf diesem Portal.
  54. Francois u.a. (Hrsg.), 1968, S. 135.
  55. Unsere Unruhen, in: Forum 24 (1967), S. 12.
  56. Fritz Köhler, Demokratische Alternative des VDS, in: Forum 8 (1968), S. 7.
  57. Ebd.
  58. Thomas Gärtig, Bericht aus Prag, in: Forum 17 (1968), S. 2ff.
  59. Christian Zak, Bewahrung des Bewährten – Axiom für Revolutionäre, in: Forum 21 (1968), S. 7. Siehe hierzu: Wolle, Der Traum von der Revolte, S. 120-121.
  60. Gerd Irrlitz, Abstrakte Demokratie und realer sozialistischer Aufbau, in: Forum 22 (1968) S. 13.
  61. Dorothee Wierling, Geboren im Jahr Eins. Der Jahrgang 1949. Versuch einer Kollektivbiographie, Berlin 2002, S. 305.
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