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Günter Schabowski über ND
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Günter Schabowski über ND
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Aus: Wir haben fast alles falsch gemacht. Die letzten Tage der DDR, Günter Schabowski im Gespräch mit Frank Siren, Berlin 2009, S. 220-235


Schärfste Lenkwaffe. Die keimfreien Staatsmedien

Sie waren von 1978 bis 1985 Chefredakteur des Neuen Deutschland, des führenden Staats- und Parteiorgans. Wie dachte man als Kommunist und Journalist in der DDR?

Ich sah mich in erster Linie als Parteifunktionär. Die kommunistische Überzeugung war bestimmend. Damit ausgestattet, wusste ich mich imstande, so ziemlich jeden Job auszuführen, den mir die Partei übertragen würde. Wie sehr sich Kommunisten stets als Großideologen verstehen, entsprechend denken und verhalten, habe ich in meinen Buch Der Absturz beschrieben. Ich hatte meine Arbeit als Berliner Parteisekretär damals mit Verve begonnen, weil ich glaubte, unserer Sache sinnvoller dienen zu können denn als Journalist. Ich schrieb: „Der Mechanismus der Selbsttäuschung funktionierte eben störungsfrei. Er unterschied auf irrationale Weise zwischen dem Ganzen und seinen Teilen. Das System war und blieb gut, mochten auch seine Elemente dem widersprechen. Das System beanspruchte, die gesellschaftliche Wahrheit und Vernunft zu verkörpern. Deshalb mussten wir einen Journalismus der Notlügen praktizieren. Wir verfügten über die bessere Ökonomie, auch wenn die Produktivitätslücke zum Westen größer wurde. Wir waren demokratischer, aber Andersdenken war im Ursinn des Wortes verpönt. Wir waren das System der Freiheit – Hatten wir nicht die knechtende Ausbeutung abgeschafft? –, aber unsere Freiheit war nur mit einem Heer an Staatssicherheit zu bewahren.“

Selbst die kritischen und weniger dogmatischen Parteifunktionäre wollten nur gelten lassen, dass Bestandteile veränderungs- und verbesserungsbedürftig waren, nicht aber das System. Der Umkehrschluss, dass bei dem schadhaften Resultat etwas an der Grundkonstruktion nicht stimmen könnte, wurde nicht zugelassen. Unser System war die Projektion eines Ideals; aber Idealen – so beruhigten wir uns selbst – nähert man sich nur via Unzulänglichkeiten.


Die Presse in der Demokratie versteht sich als vierte Gewalt. Wie sieht ein Kommunist die Presse?

Der Kommunist, ob Journalist, Theaterchef oder Betriebsleiter, sieht das anders. Sonst wäre er nicht Kommunist geworden. Er ist nicht einem Job oder seinen Talenten verpflichtet – die marxistische Weltdeutung ist sein Daseinsbezug. Als Kommunist wähnt er, ein anderer geworden zu sein, so als wäre er geistig neu erschaffen. Es gibt im kommunistischen Medienverständnis keine politische Kommunikation wie in einer Demokratie. Die verfassungsgemäße Führungsrolle der Kommunistischen Partei ließ keinen Platz dafür. An ihre Stelle trat die Ideologie. Alle Mittel, Faktoren und Figuren der Kommunikation existieren formal auch im Sozialismus, aber sie sind instrumentalisiert. Sie sind eindimensional, dienen nicht dem Austausch von Meinungen oder der Veränderung politischen Handelns. Die Medien im Sozialismus sollen einzig und allein die herrschende Räson durchsetzen. Vor diesem Hintergrund sollte man den kommunistischen Journalismus nicht einfach nur als eine Variante von Journalismus verste­hen, die man im Westen für amputiert oder einfach nur für grotesk hielt. Wir sahen uns ganz anders: als wichtige Instrumente des Kampfes für die hehre Sache der Partei.


Nach diesem Verständnis fiel den Medien eine bedeutende Rolle zu, wenn es darum ging, die Menschen im Sinne der Parteilinie zu beeinflussen.

Ja, funktional hatten die Medien, also Print, Fernsehen und Rundfunk, einen hohen Stellenwert für die SED. Das drückte sich in dem geflügelten Wort von der Presse als schärfster Waffe der Partei aus. Heute würde ich leicht abgewandelt und ironisch sagen, sie war die „schärfste Lenkwaffe der Partei“. Als Institution der gesellschaftlichen oder zumindest der innerparteilichen Diskussion und Meinungsbildung, die auf einer annähernd objektiven Berichterstattung basiert, spielte die Presse so gut wie keine Rolle. Sie war ein ausführendes Organ der Parteiführung und der von ihr ausgegebenen Richtlinie, der Generallinie, die von Parteitag zu Parteitag bestimmt wurde. Journalisten hatten sich in erster Linie als Kommunisten zu verstehen, als Funktionäre, als „militants“ der Partei. Im Sozialismus galt das Leninwort von der Presse als „kollektiver Agitator, Propagandist und Organisator“ bei der Durchsetzung der Parteilinie. Es ist bezeichnend für den kommunistischen Hang zum Dogmatismus, dass auch dieser Leitspruch zur unantastbaren Wahrheit erhoben wurde – ohne Rücksicht auf die konkreten historischen Umstände seiner Entstehung. Die Welt hatte sich doch seit dem Erscheinen der Iskra erheblich verändert.


Was war denn die Iskra?

„Iskra“ bedeutet russisch der Funke. Es war der Name eines kleinen Blattes, das ab 1900 unter der Führung von Lenin erschien.


Und das war auch noch Vorbild in den achtziger Jahren?

Das ist richtig vermutet. Das kommunistische Medienkonzept reicht zurück bis ins erste Jahr des vorigen Jahrhunderts. Es wurzelte in dieser bolschewistischen Reliquie, die in der Zarenzeit unter der Redaktion von Lenin das geistige und organisatorische Zentrum der radikalen Kräfte der russischen Sozialdemokratie im Untergrund war. Alle prinzipiellen Anforderungen an die Medienarbeit der mit Moskau verknüpften kommunistischen Parteien wurden daraus abgeleitet oder dazu in Beziehung gesetzt. Daraus resultierte ein beispiellos uniformes Pressewesen, das sich hoher Auflagen rühmte, doch letztlich nur das Gegenteil dessen bewirkte, was es stärken sollte. Information kam in der zitierten Lenin’schen Formel bezeichnenderweise als Begriff nicht vor. Natürlich kann die Presse auch im Sozialismus nicht auf Nachrichten verzichten. Aber nach dem Lenin’schen Prikas galten sie als Agitation, man nannte das „Agitation durch Tatsachen“. Es betraf sowohl die Auswahl der Fakten als auch den Duktus ihrer Präsentation.


Quälte man sich nicht als Journalist, wenn die Diskrepanz zwischen den Tatsachen und der parteilich en Darstellung zu groß wurde?

Nein. Das mag Sie verblüffen, aber Parteilichkeit ersetzte für uns als überzeugte und geschulte Jünger des Kommunismus den journalistischen Maßstab der Objektivität. Nach unserer Begrifflichkeit hieß, parteilich zu sein, in einem höheren Sinne, objektiv zu sein. Denn Parteinahme für den Sozialismus oder Kommunismus bedeutete, sich den objektiven Entwicklungsgesetzen gemäß zu verhalten und sie zu verteidigen. Parteilichkeit stand aber auch für unbedingte sozialistische Apologetik. Entsprechend verbissen wurde alles bürgerlich-kapitalistische Gerümpel bekämpft. Eine parteiliche Unwahrheit oder das Verschweigen einer lästigen Wahrheit war in dem Sinne objektiver, als ein um realistische Darstellung bemühter Journalist aus dem anderen Lager je sein konnte. Das war Dialektik. Ein normaler Sterblicher würde es eher als Rabulistik bezeichnen.


Das machte zumindest theoretisch eine Zensur überflüssig. Wie umfassend war die lenkende Kontrolle? Gab es längerfristige generelle Vorgaben für die Medien?

Zum Teil: In der DDR gab es das Phänomen der Zensur ohne Zensor. Das war ein Unterschied zum kommunistischen Polen etwa, wo aus rotpreußischer Sicht „polnische Wirtschaft“ herrschte. Im Nachbarland wurde die Eigenständigkeit von Journalisten etwas weniger stranguliert. Andererseits gab es als sichtbares Zeichen der Bevormundung durch die Partei noch eine direkte Zensur. Sie kontrollierte nachträglich auf Verdacht Druckerzeugnisse, ob sie von der offiziellen Linie abwichen. Honecker erlaubte sich immer mal wieder gegenüber ausländischen Journalisten und Staatsgästen den selbstgefälligen, im Grunde zynischen Hinweis, dass die DDR im Gegensatz zu „anderen“ keine Zensur kenne. Ja, die Schere im Kopf reichte aus, um die Political Correctness der Federn und Mikrofone in der DDR zu gewährleisten.


Aber ging es manchmal nicht einfach auch darum zu informieren? Woher wusste man denn, was man zu schreiben hatte und was nicht?

Das war kein sich selbst regulierender Prozess. Der Verzicht auf die Nachzensur war durch ein Höchstmaß an Reglementierung erkauft. Dafür waren zwei Institutionen der Partei und des Regierungsapparates zuständig, die Abteilung Agitation des ZK und das Presseamt der Regierung der DDR. Die ZK-Abteilung kümmerte sich um die Parteipresse – in jedem Bezirk der DDR erschien ein SED-Blatt. Außerdem um die Zeitungen großer Massenorganisationen wie von Gewerkschaften und dem Jugendverband FDJ, die als Ableger der Partei galten. Das Presseamt lenkte mit den gleichen Methoden die Presse der Blockparteien, Zeitschriften und Fachjournale. Der Presseamtschef empfing zudem gleichfalls von der Agitationsabteilung des ZK Richtlinien, die er dann an die Presse der Blockparteien weitergab.


Wie umfassend war die lenkende Kontrolle? Gab es längerfristige generelle Vorgaben für die Medien?

Es gab kaum oder so gut wie gar keine weitreichenden Empfehlungen oder Richtungsimpulse bei der Beobachtung und Begleitung der Medienarbeit. Nur gelegentlich fanden spezielle Beratungen oder Tagungen des Journalistenverbandes statt. Die Linie war ja längst durch die zentralen Parteibeschlüsse der SED vorgegeben. Außerdem mischten sich die ZK-Abteilung und das Presseamt ständig in die Arbeit der Redaktionen ein. Sie erteilten ihnen täglich konkrete Gestaltungshinweise: ob etwas wiedergegeben werden sollte oder nicht, welche Wertungsakzente, Tagesneuigkeiten, Protokollmeldungen, Regierungs- oder Parteibeschlüsse, Reden und Themen für Kommentare zu beachten oder wie sie zu plazieren waren, und welche Stimmungslagen journalistisch unterfüttert werden sollten.

Einmal in der Woche trat in den Räumen der ZK-Abteilung die sogenannte Agitationskommission zusammen. An ihr nahmen Chefredakteure der zentralen Zeitungen, aus Fernsehen und Rundfunk und der Leiter des Presseamtes teil. Sie erhielten dort vom Leiter der ZK-Abteilung Daten und Anweisungen zu jüngsten oder bevorstehenden Ereignissen. Gegebenenfalls hagelte es auch Kritik zu einer Veröffentlichung. Die Sitzung der Agitationskommission fand regelmäßig im Anschluss an die wöchentliche Tagung des Politbüros statt. Der Abteilungsleiter pflegte zuvor als Zuhörer an der Sitzung des Politbüros teilzunehmen. So wurden die relevanten Entscheidungen des Politbüros direkt in mediale Aktivitäten umgesetzt. Wie weit die Kompetenz der Agitationsabteilung auch bei Personalfragen im total instrumentierten Pressewesen reichte, geht daraus hervor, dass ihr die einzige Fakultät für Journalistik in der DDR direkt unterstellt war. Im „Roten Kloster“ an der Leipziger Uni wurde der Nachwuchs für den sozialistischen Journalismus geklont. Nach ihrem Staatsexamen verfügte die Abteilung auch über den Einsatz der Absolventen in den Redaktionen.


Und griff Honecker auch direkt in die Medienarbeit ein?

Das war so etwas wie sein Steckenpferd. Obwohl es im Politbüro mit dem Sekretär für Agitation einen Beauftragten für die Medien gab, behielt sich der Generalsekretär das Recht vor, auf das Fernsehen und das Zentralorgan Neues Deutschland direkt Einfluss zu nehmen. Das entsprang allerdings nicht nur dem allumfassenden Kontrollbedürfnis der SED. Honecker hielt sich im Unterschied zu Generalsekretären anderer „Bruderparteien“ für besonders medienkompetent. Neben seiner höchsten Weisungsbefugnis als Generalsekretär spielten da auch Sentimentalitäten eine Rolle: Der Jungkommunist Honecker war in seiner saarländischen Heimat als Arbeiterkorrespondent für das KP-Blatt Arbeiterzeitung tätig gewesen. Die von ihm gelegentlich im ND verfassten Kommentare zur West-Thematik pflegte er mit den Initialen A. Z. zu zeichnen – in Erinnerung an die Arbeiterzeitung, aber auch um ein journalistisches Gütesiegel zu schaffen, einen Maßstab, den er selbst setzte. Honecker interpretierte die von ihm gewählten Initialen folgendermaßen: „So muss ein Kommentar sein. Alles Notwendige muss klipp und klar gesagt werden – eben von A bis Z. Und die West-Thematik lag ihm besonders am Herzen. Denn ND-Kommentare, die die Beziehungen zur Bundesrepublik betrafen, wurden häufiger in den Medien der BRD zitiert.

Unmittelbar nach der Politbürositzung und noch vor der Anleitungsrunde in der Abteilung Agitation mussten sich der Sekretär für Agitation und der ND-Chefredakteur bei Honecker einfinden. Der Sekretär legte Honecker den Verlaufsplan der Abendschau „Aktuelle Kamera“ vor. Vom Chefredakteur ließ er sich über das Layout der Titelseite, die Aufmacher, über die Akzente von Überschriften und nicht selten über beabsichtigte Tageskommentare informieren. Besonderes Augenmerk richtete Honecker auf alles, was die Beziehungen zur Bundesrepublik betraf. Bei den Fernsehnachrichten interessierte er sich zudem stärker für Details. Das Fernsehen hielt er für besonders wichtig, wenn es um die Massenwirkung der SED-Führung und seiner Person ging. Wobei er schon zufrieden war, wenn es gelang, ein Ereignis mit ihm technisch einwandfrei in Szene zu setzen. Das war gewissermaßen seine Vorstellung von Offenheit. Auf diese Weise meinte Honecker, zumindest theoretisch nahezu jeden Abend auf visuelle Tuchfühlung mit den Bürgern zu gehen. Aber auch sonst galt ihm die Vermittlung der meist kargen Informationen über Bilder als besonders wichtig und vielversprechend, um die Öffentlichkeit zu manipulieren. Da ließ er Meldungen der „Aktuellen Kamera“ in der Abfolge ändern, es wurde an der Sendelänge von Nachrichten herumgedoktert, und es gab auch schon mal ganz konkrete Hinweise für die Kameraaufnahmen, wie: Nicht immer nur von der Seite aufnehmen. Besser ausleuchten, dass man nicht wie ein Eimer Schlämmkreide aussieht!


Die Kontrolle spricht ja einmal mehr für das allgegenwärtige Misstrauen. Nur deswegen mussten Sie doch die Nachrichten sorgsam filtern?

Ja. Letztlich waren die Massenmedien mit ihrer Propaganda nur ein weiteres Instrument zur Sicherung der Macht. Bezeichnend dafür ist der Katalog von Sprachregelungen, deren Pingeligkeit nicht selten Kabarettqualität hatte. Diese Regelungen wurden per Fernschreiber, dem Vorgänger der E-Mail, oder per Telefon von der Agitationsabteilung des ZK übermittelt. Ein stellvertretender Leiter dieser Abteilung hat sie gesammelt und einige davon nach der Wende veröffentlicht. Folgende Dinge durften nicht erwähnt werden: das Wort Staatszirkus, da es den Staat lächerlich machen könnte – aus Trotz schrieb eine Zeitung dann „DDR-Zirkus“, prompt wurde das Verbot dieses Begriffs nachgereicht; das Wort Formaldehyd, da die Bürger Angst vor Krebs bekommen könnten; das Wort Volksschwimmhalle – denn die Schwimmhallen seien ja ohnehin für das Volk da; die Wörter Putten, Bowlingbahnen, Schlösschen und Boulevards, weil sie Bedürfnisse wecken würden, die nicht zu befriedigen seien; negative Berichte über Pakistan, weil wir uns die Start- und Landerechte in Karatschi erhalten müssten; das Kombinat Schiffbau, weil es verschuldet war, und der Direktor dafür abgestraft wurde; das Wort Bratwurststände, weil die Leute ohnehin genug Fleisch essen würden; das Wort Atomkraftwerke, weil sonst ein sensibles Thema hochgepuscht werden würde; der Begriff selbstgebaute Fluggeräte, weil das Fluchtabsichten anregen könnte; das Wort Formel-1-Rennen, weil wir uns die nicht leisten könnten.

Außerdem gab es Regieanweisungen wie folgende: Keine Fotos von Massenveranstaltungen aus der Vogelperspektive – mit der Begründung: Wollt ihr die Schuld haben, wenn ein Fotograf bei einer Kundgebung von der Leiter fällt; oder: keine Fotos von Obsttellern auf den Tischen bei protokollarischen Begegnungen, weil die Bevölkerung neidisch werden würde.


Das ist in der Tat nicht nur kabarettreif, sondern zeugt auch von verkrampften Minderwertigkeitskomplexen.

Tja, so war die Stimmung in der Führung des Arbeiter- und Bauernstaates. Es rundet vielleicht das Bild von den Medien ab, wenn ich noch einige Verbote erwähne. Im Grunde verraten sie in ihrer Besorgnis um das Renommee des Staates unseren Mangel an Souveränität: Lange Zeit durfte nichts über Kriminalität und Alkoholismus in der DDR veröffentlicht werden. Die Existenz von Neonazis in der DDR wurde so lange verheimlicht, bis sie sich aufgrund von Gerichtsverhandlungen nicht mehr leugnen ließ. Die spießige Verschämtheit, nach der wohl nichts sein konnte, was nicht sein durfte, traf Homosexuelle ebenso wie das Waldsterben, die Smogbelastung oder die Rate der Ehescheidungen. Merkwürdigerweise hat die Verschämtheit in einer Sphäre nicht gewirkt: An manchen Grenzübergängen zeigte sich die DDR ungeniert in einer schäbigen Tristesse, die bei einreisenden Besuchern Dante’sche Empfindungen auslösen musste.


Hatten Sie journalistische Vorbilder, denen Sie nachgeeifert haben?

Wer oder was sollte uns schon bei dieser ständigen Anmahnung zu politischer Pfennigfuchserei als Vorbild gedient haben. Aber ein Zitat von Maxim Gorki ist mir in Erinnerung geblieben, das uns beim Journalistikstudium als Leitwort mit auf den Weg gegeben wurde. Ich habe es dann später mir und anderen immer mal wieder zur Selbstbestätigung vorgehalten. Gorki geht darin mit der russischen Exilpresse ins Gericht: „Sie lebt fast ausschließlich von Nachdrucken aus sowjetischen Zeitungen und klaubt mit Vorliebe alles heraus, was schlecht ist, was die Bauern und Arbeiter und die von ihnen geschaffene neue Ordnung in Verruf bringen kann. Von derartigem Emigrantensumpf ernähren sich nun ihrerseits die bürgerlichen Zeitungen Europas, und diese Zeitungen liest auch das europäische Proletariat. Das Klassenbewusstsein ist eine starke Kraft. Aber eine Maschine, die man Tag für Tag mit allerlei Staub und Dreck beschmutzt, wird doch schlechter arbeiten, selbst wenn es eine leistungsfähige Maschine ist.“ Aus dem Zitat lässt sich schließen, dass die damaligen sowjetischen Zeitungen noch ziemlich offen Kritik an Missständen äußern konnten. Deshalb mahnte Gorki als moralische Autorität, nicht durch „Nestbeschmutzung“ die Konterrevolution zu fördern. Andererseits sahen wir darin eine Rechtfertigung für jede Korrektur oder Beschönigung von Tatsachen, wenn sie nur die sozialistische Idealgesellschaft vor Schatten bewahrte.


Was haben Sie als Chefredakteur Ihren Mitarbeitern mit auf den Weg gegeben? Sie konnten sich ja nicht ständig auf Gorki beziehen.

Typisch für unseren Balanceakt war folgende Sentenz, die ich noch Anfang der achtziger Jahre auf einer Konferenz vertreten habe: „Die wirkungsvollste Form der Kritik, die wir gegenwärtig betreiben und fortführen werden, ist die Kritik am Alten, am Herkömmlichen, am Uneffektiven, am Kostenaufwendigen ... Wir sind Anwälte des Sozialismus. Deshalb ist die Hauptform der Kritik, zu der wir uns bekennen, das Setzen immer neuer Maßstäbe, die Verbreitung fortgeschrittener Erfahrungen – also die Kritik am Bestehenden in dem Sinne, das Gute von heute in das Bessere von morgen umzuformen.“ Etwas Schlechteres als das Gute war unaussprechlich geworden.


Es gab allerdings auch Zeiten von Lockerungen, vor allem als Honecker 1971 die Macht übernahm. Waren das euphorische Zeiten?

Euphorie ist übertrieben, aber wir waren hoffnungsvoll. Ich arbeitete zu jener Zeit schon das dritte Jahr als stellvertretender Chefredakteur in der Redaktion des Neuen Deutschland. Die Abteilung Agitation des ZK hatte noch während meines einjährigen Studiums an der Moskauer Parteihochschule der KPdSU verfügt, dass ich im „Zentralorgan“ der Partei eingesetzt wurde. Das ND wies reichlich stellvertretende Chef­redakteure auf – mit mir waren es sieben. Die Redakteure witzelten über die Chef-Schwemme. „Du gehst zum Empfang. Am Buffet ist noch jede Menge Platz. Plötzlich ist kein Rankommen mehr: Die stellvertretenden Chefredakteure des ND sind eingeschwebt.“

Die bürokratische Blähsucht hatte auch die Redaktionen erreicht. Die Zahl der Leiter nahm zu, die der schreibenden Redakteure blieb konstant niedrig. Viel zeitlicher und personeller Aufwand wurde bei der Planung und Kontrolle der Texte verschwendet. Beides widersprach dem Gebot einer Tageszeitung, flexibel und schnell zu sein. Das kam einfach erst an zweiter oder dritter Stelle, da die Politik und ihre Apparate vorschrieben, was wichtig und was unerheblich war.

Unser Journalismus bediente die Leser behäbig und wortkarg wie ein anmaßender Schalterbeamter, wenn es um relevante Fragen der Politik ging. Die Menschen mussten sich in vielen Fällen mit nichtssagenden Protokollmeldungen und Kommuniqués zufriedengeben. Andererseits waren ausufernde Berichterstattungen nicht nur gestattet, sondern erwünscht, sofern sie „Ereignisse“ betrafen. Bei Staatsbesuchen nahm das ganze Zeitungsseiten in Anspruch. Zum vorgeschriebenen ständigen Repertoire gehörte auch der minutiöse, sich aufs Wort gleichende Bericht über das militärische Begrüßungszeremoniell bei Ankunft eines ausländischen Staatsgastes. Nach der Lektüre einer solchen Beschreibung sagte mir ein ungarischer Kollege: „Ihr seid nicht perfekt. Ihr habt versäumt, die Noten des preußischen Präsentiermarsches abzudrucken, den die Kapelle gespielt hat.“ Diese journalistischen Unsitten waren schon unter Ulbricht eingeführt worden. Umso hoffnungsvoller nahmen wir auf, dass Ho­necker die Journalisten zu mehr Tatsachentreue ermutigte.


Aber die Hoffnungen erfüllten sich nicht? Was änderte sich mit Honecker?

Mit der vorsintflutlichen Geschichtsklitterung sollte Schluss gemacht werden. Natürlich wollte Honecker nicht die bisherige Lesart umschreiben, aber auf historischen Fotos wurden die Personen nicht mehr wegretuschiert, die irgendwann aus dem sozialistischen Olymp verbannt worden waren. Er verlangte, dass über Katastrophen und Unglücksfälle in sozialistischen Ländern inklusive der DDR offen berichtet werden sollte. Das interessiere doch die Menschen. Außerdem seien wir es den Betroffenen schuldig. Gemessen an westlichen Gepflogenheiten hört sich das unglaublich banal an. Damals war es in den sozialistischen Ländern jedoch üblich, einen Flugzeugabsturz, von dem eigene Bürger betroffen waren, entweder zu verschweigen oder nur am Rande zu erwähnen. Sozialistische Flugzeuge mussten nun einmal ewig funktionieren wie der sagenhafte Holländer. Das ND erhielt von Honecker den Auftrag, Informationen mehr Raum zu geben, also mehr Nachrichten und weniger lange Artikel und Reden zu veröffentlichen.


Und gelang es Ihnen, den Spielraum auszumessen?

Die Sucht des Systems nach Apologie führte schon Mitte der siebziger Jahre dazu, dass wir in alte Gewohnheiten zurückfielen. Verstärkt machten sich medienwidrige Praktiken breit. Nachrichten über vermeintlich unbequeme Tatbestände, die der Bürger schon drei Tage zuvor im Fernsehen der Bundesrepublik serviert bekam, wurden in der DDR vorsätzlich verspätet veröffentlicht. Die Nichtinformation wurde zu einer spezifischen Form der Information. Man wusste, wenn weithin Bekanntes nicht mitgeteilt wurde, musste dahinter etwas Gravierendes stecken. In Kommentaren wurde eine merkwürdige Art der Polemik praktiziert. Es glich einer Art Schattenboxen mit den gegnerischen Argumenten, die aber nicht genannt wurden, weil man Meinungen des Gegners keine Bühne geben wollte. Die Redaktionen erhielten Leserbriefe mit Nachfragen, gegen was oder wen ein Kommentar eigentlich ziele. Allen Ernstes wurde den Lesern empfohlen, in ihrer Zeitung zwischen den Zeilen zu lesen. Als die wirtschaftlichen Schwierigkeiten Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre zunahmen, ließ Günter Mittag die Zeitungen nach Redakteuren durchforsten, die sich der ökonomischen Realität unsittlich näherten. Wer dabei ertappt wurde, musste mit einer Rüge, Versetzung oder Absetzung rechnen. Eine besondere Herausforderung waren die schon erwähnten geschönten Monatsstatistiken über die Planerfüllung, die alle Zeitungen veröffentlichen mussten. 1988 und 1989 strapazierten sie zweifellos die Geduld der Menschen aufs Äußerste. Diese Statistiken lösten bei vielen Lesern Empörung über den Widerspruch aus, der sich zwischen den ökonomischen Prahlereien und der tristen Wirklichkeit in den Betrieben und den Läden auftat.


Wurden Sie zusätzlich auch noch von der Stasi überwacht?

Es hat im Mielke-Ministerium auch Bereiche gegeben, die für die Medien zuständig waren. Diese Abteilungen stellten in erster Linie sicher, dass mit der Drucktechnik nichts schiefging und über die Technik keine politischen Fehler in den Zeitungen lanciert wurden oder Anti-DDR-Material in der Druckerei gefertigt wurde. Die Redaktion war ja selbst eine politische Institution ersten Ranges. Sie und ihre von der Partei ausgewählten Chefs konnten ihre Texte am besten selbst kontrollieren. Das war nicht Sache der Sicherheit. Dafür übernahm also die Partei selbst und im ND, wie gesagt, sogar der Generalsekretär höchstpersönlich die Garantie. Tatsächlich beteiligten sich die für die Medien zuständigen MfS-Diensteinheiten nur in Ausnahmefällen ohne Wissen der Agitationskommission des ZK an der inhaltlichen Gestaltung der Medienpolitik. Andererseits überwachte das MfS durch die Plazierung von Inoffiziellen Mitarbeitern selbst beim Parteiorgan Neues Deutschland nicht nur die Drucktechnik oder die Einhaltung der Brandschutzbestimmungen, sondern auch die Verhaltensweisen und die politische Zuverlässigkeit der Redaktionsmitglieder und des technischen Personals. Ob Letzteres mit der Billigung Honeckers geschah, glaube ich nicht. Ich nehme eher an, dass es auf die Kappe von Oberschnüffler Mielke ging. Er wollte so an Material gelangen, falls ein Mitglied der Chefredaktion irgendwann einmal aus dem Verkehr gezogen werden sollte. Offiziell jedenfalls durfte Mielke nicht in die Belange der ND-Redaktion eingreifen, weil sie eine Domäne des Generalsekretärs war. Die Stasi konnte lediglich Berichte anfertigen und den Generalsekretär oder das zuständige Politbüromitglied davon in Kenntnis setzen.


Hat es Berichte des MfS über das ND gegeben?

Nein, das wäre ja ein Affront gegen den Generalsekretär gewesen. Aber auch der Generalsekretär und das Politbüro waren sich der Gefahr bewusst, die eine allwissende Institution wie das MfS für die Machthierarchie in der Partei darstellte. Deshalb war ihr Wirken letztlich doch Regeln unterworfen. Wenn der Minister nicht selbst in Ungnade fallen wollte, musste sich das MfS daran halten. Hinzu kam noch, dass jemand wie Mielke gegenüber dem KGB ebenfalls Verbindlichkeiten zu erfüllen hatte. Letztlich perfektionierte das MfS mit seinen Spitzelinformationen die Kontrolle der SED über die Linientreue der Journalisten.


Werfen Sie noch einmal einen vergleichenden Blick auf die Medien in West und Ost. Die hatten ja im Grunde wenig gemein.

In der Tat hatten Zeitungen, Fernsehen und Rundfunk im Realsozialismus mit den entsprechenden Institutionen in den westlichen Demokratien nicht viel mehr gemeinsam als die materielle Hülle – Papier, Druckerschwärze, Sender, Mattscheiben, Radios. Die Rolle der Medien im Westen und ihr soziales Wirkungsfeld unterschieden sich grundlegend: Die westlichen Medien galten allen relevanten politischen und wirtschaftlichen Kräften als unersetzlich wegen ihrer kritischen Funktion. Gewiss ist auch diese Medienlandschaft nicht ohne Fehl und Tadel. Es sind auch nur Menschen, die in einer Welt der Versuchungen leben. Aber die Mehrheit der Presse in der Bundesrepublik kann Leistungen vorweisen, die ihren Anspruch als Element der Gewaltenteilung rechtfertigen.

Diese Funktion der Medien wird am eindrucksvollsten offenbar im sogenannten investigativen Journalismus. Nicht nur in den USA, auch in der Bundesrepublik hat er schon seit Jahren seine Wirksamkeit als öffentliches Purgatorium, wie die Katholiken das Fegefeuer nennen, bewiesen. Augenscheinlich ist dies auch im Bewusstsein der Bürger verwurzelt. Denn ausgewiesene Parteiorgane werden nicht einmal von den Mitgliedern oder Wählern dieser Organisationen besonders geschätzt – das zeigen deren Auflagenentwicklungen. Man traut ihnen zu Recht nicht die Fähigkeiten einer nachweisbar unparteiischen, unabhängigen und eben deshalb kritischen Presse zu.

Das westliche Selbstverständnis von Journalismus beruht nicht zuletzt auf der breiten Akzeptanz seiner destabilisierenden Funktion. Wirkliche Demokratie lebt von der Möglichkeit des Wechsels. Wenn sich innerhalb eines demokratischen Systems politische Strukturen übermäßig verfestigen, wenn Filz und Korruption herrschen, müssen die medialen Seismographen Alarm schlagen. Die Medien destabilisieren das System, während die Demokratie als Ganzes stabilisiert wird. Wer heute verständnislos die Medien in der früheren DDR betrachtet, sollte sich vor Augen führen, dass diese ihm unverständlichen Erscheinungen auf dem Boden eines grundlegend anderen Gesellschaftsmodells gewachsen sind. Dieses Modell proklamierte eine Art Übergewalt, die alle „illusionäre“ Gewaltenteilung der bürgerlichen Gesellschaft aufheben sollte durch die vorgebliche Diktatur der Mehrheit. In Einklang damit sollte die Freiheit der Presse nach Marx darin bestehen, dass sie kein Gewerbe zu sein brauchte und damit nicht mehr den wirtschaftlichen Zwängen des kapitalistischen Marktes unterworfen sei. Nach der geglückten Revolution schuf sich die Partei, die sich auf die Diktatur des Proletariats berief, das Phantom einer Presse, die ihr gefügiges Werkzeug wurde. Ihr Ableger, ihre Imitation in der DDR, hat über Jahre den Unmut der Menschen entfacht. So haben auch die DDR-Medien am Ende unabsichtlich die ver­ändernde Wirkung einer vierten Gewalt gehabt. Sie haben den Abgang eines lebensuntauglichen Systems beschleunigt.

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